Morgenroetes Krieger
offensichtlichen Mangel an irgendeiner Waffe plötzlich zu einer gefährlichen Gestalt geworden, zu etwas, das sich jedweder Kontrolle zu entziehen schien. Han berüh r te die weiche, mädchenhafte Haut ihrer Schulter; unter dem Druck seiner vertrauten Hand beruhigte sie sich.
„Warte“, sagte er. „Verschwende es nicht an ihn. Laß ihn seiner Wege gehen. Wenn du den Geschichtensam m ler unbedingt noch einmal benutzen willst, dann dafür, um mir noch eine weitere Geschichte zu erzählen. Auch er wird sie sehen wollen.“
Sie drehte sich um und fragte ruhig: „Was ist es?“
„Das helle Ding, der Stern. Erzähle mir seine G e schichte und wo wir darin vorkommen. Ich will dir die Anfange zeigen.“
„Nicht noch einmal. Ich kann ihn nach alledem nicht noch einmal benutzen. Ich habe ihn heute schon zu oft benutzt. Er macht mir Angst. Laß mich erzählen, wie er benutzt wird. Nun, wenn man eine Geschichte über einen bestimmten Ort, eine bestimmte Person, zu einer b e stimmten Zeit machen will, so braucht man viele Anfä n ge, viele Bewegungsänderungen, viele Stellungen, bevor er antwortet. Je spezieller es ist, um so mehr muß ich eingeben, um so weniger gibt er mir zurück. Um ein Sandkorn fallen sehen zu können, auf einer bestimmten Stelle, zu einer bestimmten Zeit, würde ich Jahre bra u chen, vielleicht mehr. Und wer wollte es schon sehen? Andererseits, wenn ich fragen wollte: ‚Was ist der Sinn des Lebens?’, so gibt es keine Anfänge. Ich brauche ihn nur zu spannen und hineinzuschauen. Viele Anf ä nge – kurze Geschichte; wenig Anfänge – lange Geschichte. Die letztgenannte ist die längste von allen; sie endet nie, sie dauert ewig. Und da es keine Zeit gibt, bist du dort gefangen, wo dir auch keine Illusion mehr hilft. Deshalb stellen wir diese Frage nie. Ihre Antwort nimmt dich für immer gefangen. Dein Geist ist verloren. Du kannst nicht mehr zurück – und niemand kann dich dort herausholen.“
„Wieder einmal diese irrationalen Größen“, fügte Li s zendir hinzu. „Die Realitäten, die dieses Gerät symbol i siert, sind allesamt irrationale Größen – einmalig, unwi e derholbar. Aber in ihrem System hat sie einen Weg g e funden, an beliebigen Punkten abzubrechen, abgesehen von einigen speziellen Fragen. Ohne diesen Abbruch müßtest du den Gedanken zu Ende denken, da er endlos ist. Ich verstehe, warum es tödlich sein kann. Klar, daß ich ihn niemals benutzen kann, noch daran denken wü r de, es je zu versuchen.“
Usteyin nickte zustimmend und wandte sich erwa r tungsvoll den Instrumentenbrettern zu. Han leitete die Programmsequenz ein: eine komplette, auf allen Instr u menten und Anzeigen wiedergegebene Datenabfolge zur Sonne von Morgenröte. Er konnte nicht verstehen, wie sie in dem, was sie da vor sich sah, einen sinnvollen Zusa m menhang erkennen konnte, denn vieles wurde in einer k o difizierten Symbolsprache wiedergegeben, die ihr völlig fremd und unbekannt sein mußte. Aber andere r seits sah Usteyin vielleicht, wie sie es schon im Zusa m menhang mit ihrem Geschichtensammler erklärt hatte, nicht die D a ten als solche, sondern nur Gestaltmuster von Abläufen, Vektoren, Linien und Schnittpunkten, wobei sie ihre eig e nen Symbole auf diese speziellen Formen anwandte. J e denfalls schien sie keinerlei Probleme damit zu haben.
„Noch einmal, bitte.“
Er ließ das Programm noch einmal ablaufen. Ja! Nun war er sich sicher. Dies war in der Tat die Art und Weise, wie sie die Dinge sah, wahrscheinlich die bestmöglichste, sah man davon ab, daß sie weder verbal noch symbolisch im Sinne seines eigenen Symbolverständnisses war und folglich auch jeder Erklärungsversuch ihrerseits genauso unmöglich war wie der eines Zweijährigen hinsichtlich seiner Art zu gehen.
„Genug. Ich kann es jetzt machen. Ich brauche Licht, viel Licht. Kannst du das Fenster heller machen, mir mehr Tageslicht geben? Dies ist eine schwierige Struktur, ich brauche viel Licht dafür. Licht spielt darin eine große Rolle. Es kontrolliert die Genauigkeit und das Bew e gungsmaß.“ Han korrigierte den Bildschirm, behielt die Spannbreite des Lichteinfalls bei, reduzierte aber die Fi l tration, wobei er gleichzeitig das Schiff so drehte, daß der Stern im Zentrum des Bildschirms zur Ruhe kam. Usteyin war schon beschäftigt. Sie sagte geistesabwesend zu Han: „Ja, so ist es richtig, genau richtig …“ Ihre Stimme wurde undeutlicher, sie murmelte noch etwas, mehr zu sich selber, ging völlig auf in der
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