Morgenroetes Krieger
Augenblick schlafen oder nicht schlafen konnte: Dardenglir und Tanzernan waren als nächste dran. Han schloß das kleine Mädchen Himverlin in seine Arme, das sich warm und weich an ihn schmiegte. Sie liebte seinen Bart. Aber im Schlaf wälzte sie sich unruhig hin und her und stieß ihn mit den Armen in die Seite.
So trat Han in den alltäglichen Lebensrhythmus einer zurückgezogenen Bauerngemeinschaft der Ler ein. A b geschlossen von der Umwelt und dem verhaftet, was sie die gelehrte Unwissenheit nannten, unterrichteten sie ihn freundlich, aber bestimmt, lehrten ihn vieles mit Ausda u er und Geduld. Am Anfang verstrichen die Tage nur langsam und schleppend, dann aber verschmolzen sie in einem immer schneller ablaufenden Zyklus. Han wartete auf Liszendir und das Raumschiff, aber mit jedem neuen Tag trat dieses Bild mehr und mehr in den Hintergrund – wie ein See, der langsam in der Wüste vertrocknete.
Besonders hartnäckig waren sie darauf bedacht, daß er ihre Single-Sprache erlernte. Han fand es anfangs äußerst schwierig, aber schon bald begann sie für ihn Gestalt a n zunehmen. Es war eine eigenartige Sprache: völlig r e gelmäßig, ohne irgendeine Idiomatik oder grammatikal i schen Ausnahmen – nichts Außergewöhnliches eigen t lich, wenn man bedachte, daß sie ein Kunstprodukt war.
Die Grammatik war höchst komplex und umfaßte ein Deklinationssystem für Nomen und Adjektive. Hinzu kam ein fein-gegliedertes Regelsystem aus Betonungen, Modulationen und Dehnungen für die Verben. Dabei war die Tatsache, daß es keinerlei Ausnahmen gab, eine gr o ße Hilfe und Erleichterung. Etwas ganz anderes war es, das Han beim Lernen lange Zeit Schwierigkeiten bereit e te: Jeder Wortstamm hatte eine Silbe und bestand aus einem oder zwei Konsonanten plus Vokal plus Endko n sonant. Es gab etwa vierzehntausend Wortstämme – ohne die gebräuchlichen Aussprachevarianten. Zusätzlich hatte jeder Stamm mindestens vier Bedeutungen, und es gab keine Möglichkeit zu entscheiden, welche gerade benutzt wurde – alle waren vom Kontext abhängig, der einem jedoch so lange ein Rätsel blieb, wie man ihn nicht verstand. Somit ergab sich ein einsilbiges Grundvokab u lar von beinahe fünfundfünfzigtausend Basiswörtern. Wenn man dazu überging, zwei- oder dreisilbige Wörter zu bilden, so wuchs die Zahl möglicher Wörter ins U n ermeßliche. Er fühlte, daß hinter dem Bedeutungsg e brauch eine gewisse Ordnung steckte – wie auch hinter der Beziehung aller vier untereinander und zum Stamm selbst, aber er konnte sie nicht genau faßbar machen, und seine Lehrmeister schienen sich merkwürdigerweise j e der rationalen Erklärung entziehen zu wollen. Sie mei n ten nur, daß er das nicht zu wissen brauchte.
Alles, was er hinsichtlich dieser verborgenen Ordnung herausbekommen konnte, war, daß Liszendirs Name, den sie auf sein Bitten hin übersetzt hatten, irgend etwas mit „ Feuer“ zu tun hatte und daß hanh, was „Dauer“ bedeut e te, mit dem Aspekt „Wasser“ zusammenhing. Er erzählte ihnen von seinen Vermutungen, und sie nannten ihn sei t dem spöttisch mit dem Spitznamen „Wasser-Dauer“. Es gab auch Vierergruppen von Wörtern, die nicht jeweils vier einzelne Bedeutungen hatten, sondern nur eine ei n zige, eine Bedeutung, hinter der sich ein tiefes und damit unteilbares Geheimnis verbarg. So zum Beispiel: panh = Feuer, tanh = Erde, kanh = Luft und sanh = Wasser. Es klang ein bißchen wie Alchemie, aber Han kannte sich zu wenig damit aus, um die Sache weiter zu verfolgen.
In Ghazh’in hatte man keinen großen Bedarf an G e schriebenem, ein Grund, warum Han nur wenig Gel e genheit bekam, Single-Sprache in schriftlicher Form zu sehen. Nach einem kurzen Blick in ein Buch, das Da r denglir ihm mitgebracht hatte, wollte er damit nichts mehr zu tun haben; dem Anschein nach wurde jedes ei n zelne Stammwort durch ein einziges Grundzeichen da r gestellt, wobei darüber oder darunter, je nachdem, ob Vokal oder Konsonant, ein diakritisches Zusatzzeichen angebracht war. Han hatte Beispiele altchinesischer Schrift gesehen – und was er da vor sich hatte, sah wie eine vereinfachte Form aus, allerdings mit dem Unte r schied, daß es keine Ideogramme waren, sondern phon e tisch getreue Transkriptionen.
Neben seinem Unterricht verrichtete er tausenderlei kleinere Arbeiten und Handgriffe, die für das Leben auf einem Bauernhof notwendig waren. Abgesehen von se i ner inneren Unruhe über das Schicksal Liszendirs, mußte er zugeben,
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