Morgenroetes Krieger
war ihr Wagen leerg e räumt und zum Teil wieder mit Vorräten für den Hei m weg bepackt. Alle drei waren gut gelaunt und in einer lockeren und entspannten Stimmung.
Bei der Aufteilung des recht beträchtlichen Gewinns boten sie Han zu dessen Überraschung genau die Hälfte an. Zuerst weigerte er sich mit dem Argument, daß man doch fairerweise durch fünf teilen müßte, aber sie eri n nerten ihn daran, daß nach Ler-Brauch die Webe als eine Einheit, als eine „Person“, galt und daß ihr Anteil nicht noch einmal unter den einzelnen Mitgliedern verteilt werde. Zudem sei ihre Hälfte bei weitem größer als sie erwartet hatten. So stimmte Han schließlich zu, und z u sammen machten sie sich auf den Weg zu einem Garte n restaurant, wo man über offenem Holzfeuer Gegrilltes bekommen konnte. Fleisch! – Han konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal ein saftiges Stück Fleisch gegessen hatte. Ler-Bauern aßen selten Fleisch, nicht etwa, weil sie Vegetarier waren, sondern weil sie pflanzliches Protein besser aufnehmen und energiemäßig umsetzen konnten. Auf jeden Fall schien es Jahre her gewesen zu sein, obwohl sein Verstand ihm sagte, daß er erst seit einigen Monaten – vielleicht ein halbes Sta n dardjahr – auf Chalcedon war.
Alle drei luden sich einen Riesenteller voll, griffen sich mehrere Krüge frisches Bier und setzten sich an e i nen wackligen Tisch, um gleich danach kräftig zuzula n gen und sich ausgiebig über den Gewinn und das G e schäft des Tages zu verbreiten. Der Abend schleppte sich langsam im Chalcedon-Zeitmaß durch die blaupurpurne Farbskala, während sie einen weiteren Gang zu sich nahmen und ihre Krüge von Zeit zu Zeit auffüllten. Sie waren gerade beim letzten Drittel ihres soundsovielten Fleischstückes angekommen, als Han am Rande der Wahrnehmung eine Bewegung, eine Gestalt, wahrnahm. Er starrte durch Dunst und Dunkelheit – es war Lisze n dir!
Er sprang auf, entschuldigte sich und eilte auf sie zu. Sie schien völlig aus dem Gleichgewicht zu sein, und als er näherkam, sah er, daß sie durchnäßt, schmutzig und abgemagert war. Sie bewegte ihre Arme in einer eigena r tigen Art und Weise: behutsam, als hielte sie glühende Kohlen, heiße Kartoffeln oder sehr zerbrechliche Blumen in der Hand. Sie sah Han erst, als er direkt vor ihr stand. Ohne sich um das Starren der Gäste und die amüsierten Gesichter von Dardenglir und Bazh’ingil zu kümmern, berührte er sie an der Schulter und breitete die Arme aus. Sie sank an seine Brust, wobei sie sich mit einem ve r zweifelten Griff fest an ihn klammerte – und ihn auch für geraume Zeit nicht mehr losließ. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und benahm sich wie ein schutzbedür f tiges Kind, das man lange Zeit allein gelassen hatte. Dann löste sie ihren Griff und trat einen Schritt zurück. Ihre Augen waren gerötet, aber ohne Tränen, ihr Blick war leer und ausdruckslos.
Han führte sie zu seinem Tisch, wo man ihr bereitwi l lig Platz machte, dann schickte er einen Küchenjungen los, um einen weiteren Teller mit gegrilltem Fleisch zu holen. Während sie aß, stellte Han die Anwesenden vor; Liszendir begann sehr langsam zu essen, als hätte sie vorher noch nie eine Mahlzeit gesehen, aber als der lange Abend zur Nacht wurde, verdrückte sie bedächtig, aber stetig, drei weitere volle Teller, dazu zwei Salatplatten und drei Krüge Bier. Sie sagte kein Wort, sondern nickte nur höflich bei gelegentlichen Bemerkungen oder zog ab und zu die Augenbrauen hoch, wenn ihr auffiel, daß Han ihre eigene Sprache benutzte.
Schließlich war sie fertig, und nachdem alle vier noch ein wenig über dies und das geplaudert hatten, meinten die Gefährten aus Ghazh’in, daß es für sie Zeit wäre, ins Bett zu gehen, da sie am Morgen in aller Frühe zurüc k fahren wollten. Schließlich waren Han und Liszendir a l lein. Sie saß neben ihm: still, den Blick ins Leere geric h tet, tief in Gedanken versunken. Ihre Augenlider wurden schwer und fielen schließlich ganz herab; Han bezahlte, hob sie hoch und trug sie in die Herberge. Sie war leicht wie eine Feder.
Liszendir schlief drei Tage lang. Han säuberte sie währenddessen und verarztete, so gut er konnte, ihre Wunden und Prellungen. Langsam bekamen Haut und Muskeln wieder Farbe. Am Abend des dritten Tages e r wachte sie. Lange Zeit sagte sie kein Wort, starrte nur aus dem Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und beobachtete den Marktplatz unter ihr, den ein wo l
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