Morgenroetes Krieger
zurück auf jene „Großstadt“, als die Leilas auf Morgenröte galt. Die Stadtmauer war weder sehr hoch noch gut befestigt oder durchgehend geschlossen; die beiden Winter pro Jahr hatten an mehreren Stellen große Lücken hineingebr o chen. Vielleicht war sie einst von Nutzen gewesen, aber nach ihrem Zustand zu urteilen, mußte dies schon zahll o se Jahre zurückliegen. Hinter der Mauer breitete sich dichtgedrängt und buntgewürfelt die Stadt im grellen Sonnenlicht aus, einem Sonnenlicht, das – als sie weiter weg waren – einen Hintergrund aus Felsen, Erde und spärlicher Vegetation, ähnlich einem natürlichen B e wuchs graubraunen Moses oder einer merkwürdigen Flechtenart, beschien.
Sie wandten sich nach Norden und schritten fest aus. Zur Rechten hatten sie den vollen Anblick der zerfurc h ten Berge, die das Hochplateau zum Osten hin abschlo s sen; sie türmten sich hoch und immer höher – erst der Schnee, der die niedrigen Abhänge und Bergrücken b e deckte, dann nackter Fels und noch weiter oben die schrecklich zerklüfteten Nadelspitzen, deren höchste Punkte auf neunzig Prozent der Planetenatmosphäre he r abschauten. Nach Westen, zur Linken, befand sich ein weiterer, etwas niedrigerer Gebirgszug, der allem A n schein nach vulkanischen Ursprungs war und trotz seiner geringeren Höhe unpassierbar war. Jetzt, da sie die Stadt verlassen hatten, blickten sie auf eine öde, unfruchtbare Landschaft, bestrahlt vom stechenden Sonnenlicht, ein Land, das um nichts besser war als jenes, das sie auf der Hochebene gesehen hatten.
In Leilas war das Klima verhältnismäßig milde gew e sen: am Tage warm, nur nachts kühlte es etwas ab. Jetzt aber, wo sie mehr und mehr die Höhe des nördlichen Becke nrandes erreichten, wurde die Luft merklich kälter und zeigte deutliche Merkmale des fortgeschrittenen Herbstes. Sie kamen nicht schnell genug voran, um mit dem Zug der Sonne gen Norden Schritt halten zu können. Ein beständiger Wind blies. Mit jedem Tag wurde die Kreisbahn der Sonne am nördlichen Himmel enger, im Süden die Dunkelheit stärker und die Kälte spürbarer.
Menschliche Gebäudeformen – so vor allem der Ba u stil der Häuser und Wirtschaftsgebäude sowie die Art und Weise, das Land zu bebauen – wichen stellenweise, dann immer häufiger und schließlich gänzlich den Fo r men der Ler-Zivilisation. Die Häuser bestanden nun nicht mehr aus den Ellipsoiden, an die Han und Liszendir g e wöhnt waren, sondern aus Steinkonstruktionen mit zwei Stockwerken und einer Art Wachturm an der Seite. Sie hatten in der Tat das Ler-Land erreicht. Das Wetter wu r de schlechter, Regen und Kälte waren ihre ständigen B e gleiter. Immer seltener trafen sie Reisende auf der Straße, die, je weiter sie kamen, um so schmaler und ungepfle g ter wurde.
In einer stürmischen Nacht mit Schnee und Graupe l schauern erreichten sie den höchsten Punkt des Becke n randes. Aufgrund der Finsternis und des Windes hätten sie es beinahe gar nicht gemerkt; es wurde ihnen erst klar, als Han sich nach einem Schutz für die Nacht u m sah und dabei feststellte, daß der Bach, dem sie zum Teil gefolgt waren, nicht länger nach Süden, sondern nach Norden floß. Sie hatten keine Vorstellung, wie lange sie gewandert waren – vielleicht einige Tage, vielleicht zwanzig –, bei immer schlechter werdendem Wetter. Schließlich entdeckten sie trotz Sturm und Finsternis eine verlassene Scheune. Als sie gerade hineingehen wollten, begann es zu schneien. Drinnen waren sie wohl vor dem Schnee geschützt, nicht aber vor der Kälte. Mehrere Male schauten sie nach draußen – doch es gab kein Anzeichen einer Besserung. Ohne einen Kommentar gaben sie die Hoffnung auf und schmiegten sich wortlos aneinander. Sie waren erschöpft, der größte Teil des Proviants war verbraucht, und es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als nach Leilas zurückzukehren.
Am nächsten Morgen schaute Han nach dem restlichen Proviant. Drinnen war es noch immer kalt, aber als er vor die Tür der Scheune trat, schlug ihm eine Luft ins G e sicht, die eine ganz neue und bisher auf Morgenröte noch nie erlebte Strenge besaß. Es war schon eine Vorahnung auf das, was man bei Einbruch des Winters zu erwarten hatte. Er blickte sich um in dem düsteren, nordherbstl i chen Licht, das über den Bergen heraufdämmerte. Wä h rend der Nacht hatte es ziemlich stark geschneit, doch der Wind hatte das meiste verweht. Der Himmel war klar, tief blau-violett und zeigte hier und da noch
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