Morgenrot
ich als Zwölfjährige während eines Sommerurlaubs die Welt des Schauerromans entdeckt, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Die Sonne schien, die Leute hatten Spaß, und ich trieb meine Mutter in den Wahnsinn, weil ich mein ganzes Geld in zentnerschwere Taschenbücher mit so schönen Titeln wie Salem 's Lot investierte. Diese Schauergeschichten haben etwas in mir zum Klingen gebracht, gaben mir das Gefühl, fortgerissen zu werden, ohne Hoffnung auf Rettung. Der Strand und das Wasser waren mir egal, ich saß im Strandkorb und hatte nicht einmal die Zeit für eine kleine Plauderei mit meiner Mutter, weil ich vollkommen gebannt war. Als ich dann anfing, Literatur zu studieren, brauchte ich über meinen Schwerpunkt nicht lange nachzudenken. Ja, ich bin einfach dem Geist der Romantik verfallen. Außerdem lagen mir das Irrationale und die ziellose Schwärmerei schon immer besonders gut.«
Lea hatte während ihres kleinen Vortrags die reflektierenden Lichter in der Fensterscheibe hinter Adams linker Schulter fixiert, und dort blieb ihr Blick haften, bis ein leises Lachen von Professor Carriere sie erlöste.AUerdines wirkte er eher erleichtert als amüsiert.
»Eine Schwäche fürs Irrationale ist eine wunderbare Voraussetzung, wenn man die bekannten Grenzen überschreiten möchte. Lea, wie sieht eigentlich Ihr Leben aus? Sie sind eine hervorragende Studentin mit einem seltsamen Sinn für Humor.« Mit einer einzigen Handbewegung wies Professor Carriere Leas Einspruch ab. »Warum sonst hätten Sie einen Ort wie diesen gewählt, wenn Ihr Stipendium Sie in die großen, alten Städte des Kontinents hätte bringen können? Liebeskummer?«
Beim letzten Wort gönnte Lea sich einen Blick auf Adams Gesicht. Dieser hatte eben einen Schluck Rotwein nehmen wollen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Seine Augen wanderten zu Lea, aber schon im nächsten Moment wandte er sich wieder ab und trank aus seinem Glas.
Da Lea ihm eine Antwort schuldig blieb, fuhr Professor Carriere fort. »Sehen Sie, Sie bleiben stets in diesem universitären Rahmen verhaftet. Es ist schwierig, Sie hervorzulocken. Aber mich würde interessieren, was sich hinter der anstudierten Art zu denken und zu reden verbirgt. Was ist der Auslöser für dieses hingebungsvolle Interesse? Ihr Wissen und Ihre Leistungen sind vorbildlich, dennoch kann ich keinen roten Faden erkennen. Ich vermute, Sie wissen nicht, wohin die Reise gehen soll, weil Sie nicht ausloten wollen, woher dieses Verlangen stammt?«
»Sie sind auch an Psychologie interessiert?«, fragte Lea schärfer als beabsichtigt. Doch sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Professor Carriere sie in eine bestimmte Ecke zu drängen versuchte. Außerdem spürte sie deutlich Adams zunehmende Unruhe, dessen Aufmerksamkeit weiterhin Carriere galt. Dabei lehnte er sich so weit über den Tisch, als werde er jeden Augenblick wie eine Raubkatze zum Sprung ansetzen.
Ein Lächeln schlich sich auf Leas Gesicht. Wenn dieses Thema bei Adam eine Regung hervorrief, dann musste sie daran festhalten, selbst wenn sie dabei einem gewitzten Gesprächspartner wie ihrem Professor ins Netz ging. Hauptsache, es gelang ihr, Leben in Adams verschlossenes Gesicht zu bringen, so dass es vielleicht etwas über ihn verriet.
»Ich denke, mich interessieren diese Grenzgänge, auf die einen die Romantik einlädt, bei denen alles verschwimmt und durcheinandergerät, und man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Das Brechen von Gesetzen, diese vage Sehnsucht nach dem Unbekannten. Vielleicht muss man an der richtigen Stelle empfindsam sein, um sich mit Lord Byron und seinesgleichen einlassen zu können.«
Lea konnte Adam schnauben hören, doch Professor Carriere kam ihm zuvor: »Was ich wissen möchte, meine Liebe: Beruht Ihre Empfindsamkeit auf reiner Neugierde? Oder ist Ihr Verlangen stärker, etwas, worauf man bauen kann?«
Verwirrt blickte Lea den Professor an. Die Worte bewegten etwas in ihr, als habe er mit der Fingerspitze die stille, spiegelglatte Oberfläche eines Sees berührt. Während Lea nach einer Antwort suchte und dabei in Carrieres ernstes, vor Konzentration blasses Gesicht sah, brach Adam den Zauber, in dem er abrupt aufstand.
»Beenden wir dieses Verhör für heute. Du kannst sie ja morgen in der Vorlesung weiterquälen. Lea, ich bin mit dem Wagen da und werde Sie jetzt nach Hause bringen, wenn Sie möchten.«
Mit einem Satz sprang Lea auf, um sich im nächsten Moment für diese Unhöflichkeit zu schämen.
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