Morgenrot
endlich zum Stehen kam, machte er sich vorsichtig von ihr frei und bugsierte sie in eine aufrechte Haltung.
Ehe Lea sich sammeln konnte, wurde ihr plötzlich ein sackförmiges Tuch über den Kopf gestülpt. Automatisch atmete sie vor Schreck tief ein, so dass der leichte Stoff in ihren Mund gesogen wurde und für einen Moment an Lippen und Zunge haften blieb. Ein kühler, glatter Schleier, der ihre Atemwege zu versiegeln drohte. Sie stieß einen qualvollen Laut aus.
Sofort bohrten sich Finger in ihre Oberarme, und sie wurde grob durchgeschüttelt. »Nun mal keine Sorge, Mädchen«, hörte sie Adalberts gereizt klingende Stimme. »Durch Seide lässt es sich ganz hervorragend atmen. Wir wollen dich ganz gewiss nicht ersticken, schließlich handelt es sich bei dir doch um wertvolle Fracht. Aber wo sich die Ausgänge des Höhlensystems befinden, dass brauchst du schließlich nicht zu wissen. Auch wenn du es sowieso nicht lebend verlassen wirst.«
Mit diesen Worten wurde Lea aus dem Wagen gezerrt. Dabei trat ihr Fuß auf etwas, das sie instinktiv als Adams ungeschützte Ferse erkannte. Schnell versuchte sie, das Gewicht zu verlagern, rutschte jedoch ab, und es erklang ein feines Knacken. Schuldbewusst zuckte sie zusammen.
»Bewegung, Maiberg!«, schimpfte Adalbert unterdessen. »Du hilfst Randolf dabei, den Kerl zu tragen. Der ist immer noch ganz weggetreten.«
Ohne Widerstand ließ sie sich von Adalbert führen, während ihr das Tuch über dem Kopf das Gefühl gab, ihre fünf Sinne wären in Watte gewickelt. Jedes Mal wenn sie ausatmete, kroch ihr der eigene Atem in die Nase, bis ihr ganz schummerig wurde. Nur undeutlich vernahm sie das feine Summen von Leuchtstoffröhren und das Schlurfen, wenn Adalbert seinen Fuß auf dem sandigen Boden nachzog. Unweigerlich fragte sie sich, ob das Hinken vielleicht ein Andenken an jene Nacht war, in der er Adam vor Jahren die Stirn geboten hatte. Aber wer konnte schon sagen, welche dunklen Pfade Adalbert seitdem beschritten hatte? Zumindest hatte sich seine Technik deutlich verfeinert, wenn es darum ging, einen Unsterblichen schachmatt zu setzen.
Hinter ihr erklang das Keuchen des Riesen Randolf, der Adam nach einem weiteren Missgeschick Maibergs wieder allein zu tragen schien.Ängstlich lauschte Lea auf ein Poltern, das bewies, dass er die schwere Last nicht länger allein schultern konnte. Wenn seine Kräfte ihn verließen, würde er sicherlich nicht sanft mit Adam umspringen, befürchtete sie.
Mit einem Mal drang ein seltsam verwobener Klangteppich an ihr Ohr. Zuerst schwach und zusammenhanglos, dann immer klarer ... Jemand fluchte ausgiebig in einer Sprache, die Lea nicht zuordnen konnte ... Jemand anders schrie abgehackt, als ahme er einen Vogel nach ... Jemand rezitierte Nonsens-Gedichte ... Gedämpft, flüsternd, wie aus großer Tiefe sickerten die Geräusche an ihr Ohr. Versteckte, eingesperrte Stimmen, sie schwirrten durcheinander, lockten: Komm näher, komm spielen, schau, was ich hier für dich habe. Komm lass dich ertasten, verführen, opfern! Wie tausend gierige Finger berührten die Stimmen Lea, während sie einander aufwiegelten und gleichzeitig zu übertönen versuchten. Ein ohrenbetäubendes Durcheinander, das doch nur einem einzigen Sinnen entsprang: dem unbändigen Wunsch des Dämons nach Blut, das so nah und doch so unerreichbar war, dass der Wunsch in Wahnsinn umschlug.
Lea war kurz davor, »Seid endlich still!« zu brüllen, ganz gleich, wie lächerlich der Versuch auch sein mochte. Aber vielleicht wäre dadurch etwas von dem Druck verschwunden, den Erdreich und Gestein, die sich über ihren Köpfen auftürmten, auf sie ausübten. Die Stimmen verstärkten das übermächtige Gefühl, gefangen zu sein, ins Unerträgliche. Pressten ihr die Luft aus den Lungen. Sie begann zu keuchen, hörte, wie sich das Geräusch, mit dem die Luft immer schneller ihren Lungen entfloh, mit dem Stimmengewirr vermischte.
Plötzlich hielt Adalbert an, packte sie an den Schultern und schüttelte sie brutal durch. Einen Augenblick glaubte Lea, die Besinnung zu verlieren, dann stellte sie überrascht fest, dass um sie herum Stille herrschte.
»Das machen sie gern mit Neulingen«, erklärte Adalbert. Dann befreite er ihre Handgelenke von der Plastikschnur.
Neben ihnen ließ Randolf mit einem Ächzen, als drohe etwas in ihm zu zerreißen, Adams Körper zu Boden gleiten. Adalbert gab Lea einen kleinen Schubs, und plötzlich verwandelte sich der Boden unter ihren Füßen in
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