Morgenrot
das Gesehene heran, so als könnte eine behutsame Umschreibung des Unmöglichen es irgendwie erträglicher machen: Der Großteil des Gesichts gehörte einem wunderschönen jungen Mann, der eben erst die letzten Schalen von kindlicher Weichheit abgestreift hatte. Die Züge verrieten mädchenhaft bewimperte Augen, einen Schmollmund, anmutig geschwungene Wangenknochen und eine Himmelfahrtsnase ... oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben war. Denn eine Ader der Zerstörung hatte das Nasenbein vernichtet sowie die einstige Anmut des Gesichts mit daumendicken Spuren zerfallenden Fleisches ins Gegenteil verkehrt. Als hätte jemand einen Pinsel mit grauer Farbe kreuz und quer über eine Leinwand geführt und damit den makellosen Grund ruiniert. Eine mit Fäulnis und Tod behaftete Marmorstatur, ein für immer verwüstetes Kunstwerk.
Ein Geschöpf Frankensteins, schoss es Lea durch den Kopf. Jemand hatte eine Assemblage aus einem Schönling in der Blüte seines Lebens und eines bei lebendigem Leibe verfaulenden Greises erschaffen. Der Kollektor, wie diese Gestalt sich selbst zu nennen schien, war ein wandelndes Mahnmal für alles Vergängliche.
Als eine goldene Haarsträhne zur Seite glitt und ein totes, eingefallenes Auge offenbarte, zuckte sie angewidert zusammen.Während sie einerseits von der noch offenkundigen Schönheit gebannt war, verursachte ihr andererseits das verrottete Fleisch eine Gänsehaut. Ihr Schauern richtig einschätzend, schürzte die Gestalt die sinnlichen Lippen, deren Konturen vollkommen unversehrt waren und den bizarren Eindruck des Gesichts schmerzlich betonten. Lea wäre nicht überrascht gewesen, wenn plötzlich eine Made aus dem Mund herausgekrochen wäre.
»Braucht sie gar nicht so zu schauen, das alberne Ding«, sagte der Kollektor schnippisch und zeigte mit dem Fächer auf sie. »Hat sie vielleicht noch alles vor sich, wer kann es schon wissen? Blut singt zu Blut, wie wahr - aber manchmal singt es auch eine Lüge. Gierig ist es und zu schön, um immer wahr zu sein. Wer weiß es schon genau?«
»Akinora vielleicht?«
Adams Stimme war heiser und kaum hörbar. Obwohl die Worte ins Schwarze getroffen zu haben schienen, so reagierte Adam - seinem Zustand nach zu urteilen - eher auf ein Stichwort, als dass er wirklich Schlüsse aus den Worten des Kollektors gezogen hätte. Mühsam setzte er sich auf und wäre beinahe vornübergekippt, wenn Lea ihn nicht im letzten Moment gestützt hätte. Als seine Augen sich nach oben verdrehten, schloss er die Lider.
Panisch bohrte Lea ihre Fingernägel in Adams nackte Schultern und flüsterte ihm eindringlich ins Ohr: »Bleib wach. Bleib bei mir.«
Wackelig zog Adam die Knie an und begann am ganzen Leib zu zittern. »Mir ist speiübel«, antwortete er so leise, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen.
Am liebsten hätte sie ihn an sich gerissen und mit Küssen bedeckt, so erleichtert war sie, ihn wieder bei sich zu haben. Schließlich war einangeschlagener Adam tausend Mal besser als ein bewusstloser. Das bisschen Übelkeit würde sicher rasch verfliegen! »Das wundert mich gar nicht nach den vielen Ampullen Beruhigungsmittel, die Adalbert dir verpasst hat«, sagte sie gedankenlos, während sie ihm den Nacken streichelte.
Bei dem Namen Adalbert riss Adam ruckartig den Kopf hoch, was er jedoch sofort bereute. Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete er vorsichtig den Hinterkopf ab, als vermute er, dort auf einen faustdicken Krater zu stoßen.
»Wo, zum Teufel, sind wir hier?«
»So wie es aussieht, hast du tatsächlich den großen Unbekannten gefunden - nur anders als geplant. Wenn du mich fragst, sitzt dort oben der geheimnisvolle Sponsor von Akinora«, sagte sie. Zärtlich legte sie ihm einen Arm um die gebeugten Schultern, zog ihn aber augenblicklich zurück, als Adam geräuschvoll zu würgen begann.
Die Zeit verstrich, doch Adam ging es nicht besser.
»Adam, hör mir zu. Schatz, bitte! Wir sitzen in einer verfluchten Höhle fest, und dort oben führt ein grotesker Zombie Selbstgespräche. Ich weiß, es geht dir im Moment nicht gut, doch du solltest dich jetzt wirklich zusammenreißen, okay?«, versuchte sie, ihn zu motivieren.
Er warf ihr lediglich einen beredten Blick zu, bevor es ihn erneut würgte.
Hilflos kauerte sie an seiner Seite, außerstande ihm zu helfen. Gerade als sie ihm anbieten wollte, die rosafarbene Narbe an ihrem Hals, die von Macavitys Biss erzählte, erneut zu öffnen, ließ die Übelkeit nach. Adam blinzelte die
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