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Morgenrot

Morgenrot

Titel: Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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klammerte sie sich verzweifelt an seiner gleichmäßigen Atmung fest und wärmte sich an der Hitze, die sein Körper abstrahlte. Dann begann sie, leise zu weinen.
     

23. Der Kollektor
    Das Rauschen des unterirdischen Flusses hatte Leas Hörgänge vollständig geflutet. Erschöpft hatte sie ihren Kopf auf Adams Brust gebettet, die Augen auf die eigenen Fingerspitzen gerichtet, die über seine nackte Haut streichelten. Nach und nach war ihr Blick verschwommen, und sie hatte sich nicht dagegen gewehrt, in den Schlaf zu gleiten. Darauf vertrauend, dass Adam sie wecken würde, sobald er wieder bei Bewusstsein war. Bis dahin wollte sie nichts mehr von der Welt mitbekommen.
    »Es wird gewiss nicht gut ausgehen für die kleine Lea, wenn sie noch länger auf dem kalten Steinboden liegen bleibt. Ist bislang nur ein ungefüllter Kelch, nicht wahr? Das rechte Behältnis für den Beherrscher, aber leer. Schutzlos. Zerbrechlich. Dieser Käfig ist nicht für sie gemacht, aber wo könnte sie wohl sonst untergebracht werden? Eine delikate Frage. Und doch gilt es nichts zu überstürzen.« Die Stimme schien ganz gefangen von den Fragen, die sie sich selbst stellte. Sie war ausdrucksstark und gleichzeitig so sanft wie ein melodiöser Singsang, der sich aufs Schönste mit dem Wasserrauschen verband. Sie erklang aus weiter Ferne, leicht gedämpft, gefolgt vom eigenen Nachhall an den Höhlenwänden.
    Einen Augenblick lang ließ Lea sich noch treiben, dann sann sie über die eben gehörten Worte nach. Die Stimme hatte recht, was die Kälte des Steinbodens anbelangte, auf dem sie nun schon so lange lag. Aber warum gegen die eisige Taubheit in den Gliedern ankämpfen, wenn sie bei Adam liegen konnte? Schließlich hatte man ihr die Macht über das eigene Schicksal geraubt, als man sie in diese Höhle geworfen hatte. Ihr Liebster war nur eine leere Hülle, und sie fühlte sich schrecklich allein.
    Plötzlich spürte sie ein leichtes Beben unter sich:Adam hatte sich gerührt, seinen Körper in eine andere Position geschoben und dabei einen Arm um sie gelegt. Mit einem Schlag waren alle trüben Gedanken fortgewischt.
    Auch jemand anderem waren die ersten Anzeichen, dass Adam wieder zu sich kam, nicht entgangen. »Ja, allmählich wacht unser Tiger auf. Der Kollektor ist sehr gespannt, ob ihm sein neues Zuhause gefallen wird. Ewiges Dämmerlicht, Felsen anstelle eines Dickichts. Ob er sich an die Mauern wird gewöhnen können?«, fragte sich die Stimme verträumt, um dann sogleich mit unverstellter Härte fortzufahren: »Gewiss nicht. Zuerst wird er die Krallen ausfahren und versuchen, die nackten Wände hinaufzuklettern, er wird brüllen und knurren, und irgendwann wird er in dieser Zelle innerlich zerbrechen. Sinnlos hin- und herlaufen wird er, von einem Ende der Höhle zum anderen.
    Traurigkeit sang in der Stimme mit, aber auch die Erregung eines Kindes, das etwas Verbotenes tut, obwohl es weiß, dass Tränen und Reue folgen werden. Doch was soll man dagegen tun?, schien sie zu fragen. Manche Dinge folgen nun mal ihrer eigenen Bestimmung.
    »Der Kollektor wird es kaum ertragen können, so viel steht fest. Dieser Tiger lässt sich nicht durch einen Gnadenschuss niederstrecken, o nein. Für diesen Tiger gibt es kein Entkommen, nicht aus diesem Käfig. Deshalb wird der Kollektor ihm auch die Ehre erweisen und ihm besonders viel von seiner wertvollen und so schrecklich knapp gewordenen Zeit widmen und ihn beobachten, solange er noch ein echter Tiger ist. Der Kollektor wird zuschauen und den Kern seines einzigartigen Wesens genießen.«
    Mit steifen Bewegungen und ein wenig widerwillig löste Lea sich von Adam und blinzelte hinauf in das Scheinwerferlicht.
    Oben auf dem Vorsprung hatte eine Gestalt in einem Regiestuhl Platz genommen und wedelte sich mit einem spanischen Fächer Luft zu, als wolle sie die ruhende Kälte durcheinanderwirbeln. Als die Gestalt sich ihrer Aufmerksamkeit bewusst wurde, ließ sie den Fächer dramatisch mit einem Knall zuschnappen und schlug ihn dann rhythmisch in die mit Handschuhen bekleidete Handinnenfläche. Gebannt verfolgte Lea dieser Bewegung eine Zeit lang, ehe ihr Blick auf das Gesicht der Gestalt fiel.
    Obschon es überwiegend im Schatten lag und von überlangen goldfarbenen Haarsträhnen verdeckt wurde, bemerkte sie sogleich, dass etwas nicht stimmte. Ihr Verstand versuchte, die von den Augen gesendeten Informationen umzusetzen, sie zu erfassen, doch er griff immerzu ins Leere. Schließlich tastete er sich an

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