Morgenrot
zog sie sich die Decke bis unter die Nasenspitze.
Das war ja noch schlimmer als Gedankenlesen! Der Geruch war etwas so Körperliches, Sinnliches, dass Lea vor Scham am liebsten gestorben wäre. Unbarmherzig jagte ein Adrenalinschub nach dem anderen das Blut durch ihren Körper, bis das Rauschen in ihren Ohren dröhnte. Wie wohl Panik riecht?, fragte sich Lea, als Adam ihr so nahe kam, dass ihre Gesichter sich beim nächsten Atemzug berühren mussten.
»Was denkst du denn, warum ich mich in deiner Nähe nur schlecht beherrschen kann?«, fragte er leise, und sie zuckte angesichts des aggressiven Untertons leicht zusammen.
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass du dich nur schlecht beherrschen kannst...«
Doch Adam schien ihren atemlosen Einwurf nicht zu hören. Er fixierte sie mit wütend funkelnden Augen, und die Anspannung seines Kiefers befeuerte Leas Puls, dass sie ernsthaft befürchtete, gleich ohnmächtig zu werden. Ihr Körper konnte sich nicht entscheiden, ob er vor Furcht zusammenbrechen oder ob er eine stürmische Umarmung, gefolgt von einem noch stürmischeren Kuss, wagen sollte. Adams Nasenflügel bebten, und ehe Lea recht wusste, wie ihr geschah, fand sie sich allein im Raum wieder.
5. Blutrausch
Der Dampf glitt niedrig über die Oberfläche aus flüssigem Gold, kletterte am weißen, leicht nach außen gewölbten Porzellanrand hinauf, um von dort als zartgraue Säule aufzusteigen. Der Duft nach den Berghängen von Darjeeling breitete sich aus, vermischte sich mit dem kräftigen Aroma des im Kamin verglühenden Lorbeerholzes.
Lea entspannte sich, während sie einen Löffel voll Akazienhonig in die Teetasse tauchte. Obgleich das Aroma von Tee und das Kaminfeuer lauter gemütliche Bilder aufsteigen ließen, suchte sie nach einem ganz anderen Duft, den sie für immer mit Schnee und Blut in Verbindung bringen würde. Unbewusst wandte sie ihr Gesicht in Richtung Klavier, wo Adam saß und ein Stück von Gershwin spielte. Prelude Nr. 2 - wie passend. Während die eine Hand spielerisch über die Tasten tanzte, beschrieb die andere eine bedrohliche Melodie. Zwei Seelen in einer Brust. In Adams Brust...
Lea senkte verträumt die Augenlider, aber bevor eine sinnliche Fantasie Gestalt annehmen konnte, erklang ein falscher Ton. Ein grober Schnitzer. Dabei hatte Adam bei den letzten drei Stücken nicht ein Mal danebengegriffen.
Professor Carriere, der gegenüber von Lea im Sessel saß, blickte überrascht von dem Stapel Manuskriptseiten auf, den er bislang leise murmelnd überflogen hatte. Dann fuhr er sich mit der flachen Hand über das kurz geschorene Haar und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Ertappt griff Lea nach der Teetasse und verbarg ihr rot angelaufenes Gesicht hinter den Dampfschwaden. Als wäre sie nicht willensstark genug, um Selbstbeherrschung an den Tag zu legen. Sie hatte sich doch nur etwas treiben lassen wollen, ehe sie sich im Zeichen der allgemeinen Schicklichkeit erneut zusammenriss. Schließlich hatten die letzten Tage ihr ausreichend Gelegenheit geboten, sich im Zügeln ihrer Libido zu üben. Es war ihr auch gar nichts anderes übrig geblieben, denn Adam wich kaum noch von ihrer Seite und das Geständnis seines ausgeprägten Geruchssinns hatte sie nachhaltig beeindruckt.
Trotzdem gab es schwache Momente, besonders wenn sie nicht mit ihnen rechnete. Zum Beispiel wenn die Beine in eine mollige Decke eingewickelt waren, man dem Klavierspiel lauschte und Honig in den Tee tröpfelte. Demnächst gab es wahrscheinlich einen warnenden Klaps auf die Finger, begleitet von einem gezischten »Pfui, Lea!«.
»Professor Carriere, was passiert eigentlich, wenn Ihnen ... sagen wir mal ... eine Hand abgeschlagen wird?« Die Frage platzte regelrecht aus Lea heraus. »Wächst Ihnen dann automatisch eine neue nach, oder müssen Sie das abgetrennte Glied an den Stumpf halten, damit sie wieder zusammenwachsen können? Ich habe mir überlegt, dass der Dämon die im Dreck liegende Hand ja auch zurückschnellen lassen könnte. Eine Art magischer Gummibandtrick, so dass man den Körper eigentlich überhaupt nicht zerreißen kann.«
Der Professor blickte sie über den Rand seiner Brillengläser abwägend an. »Soll das eine ernst gemeinte Frage sein? Oder wollen Sie mich veralbern?«
Rasch bemühte Lea sich um einen ernsthaften und interessierten Gesichtsausdruck. Gleichzeitig lauschte sie dem Klavierspiel, das weiterhin gleichgültig dahinplätscherte. »Ausgesprochen ernst gemeint«, erwiderte sie,
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