Morgenrot
bestimmte nach wie vor die Spielregeln.
Als Lea am Abend die Oper betrat, gönnte sie sich einen Moment der Ruhe und ließ die belebte Eingangshalle auf sich einwirken. Sie hatte die Minuten, bevor sie Platz nahm und der Vorhang sich hob, immer besonders genossen. Die Aufregung und die Vorfreude belebten sie. Sie beobachtete, wie die Gäste sich aus den Mänteln schälten, einander über die Köpfe der plaudernden Grüppchen hinweg zuwinkten oder rasch noch ein Glas Sekt leerten, während die Auftritte der anderen Gäste mit Kennermiene begutachtet wurden. Oftmals war das bunte Treiben im Foyer spannender als die Geschehnisse auf der Bühne.
An diesem Winterabend entwickelte das Oberlicht der Oper seine volle Pracht, und Lea hätte zu gern die Augen geschlossen, um das Klacken von Absätzen, das Aufkommen von Gesprächsfetzen und das Rascheln von Kleidern auf sich einströmen zu lassen. Aber das unbestimmte Drücken im Magen und das bestimmte Drücken der ungewohnten High Heels ließen diesen Luxus nicht zu. Nun, sie war ja auch nicht zu ihrem Vergnügen hier, sondern weil Megan, oder besser gesagt Adam, es so angeordnet hatte.
In einem Anflug von Aufsässigkeit ließ Lea den Blick schweifen, und er blieb sogleich an Adams Profil hängen. Er musste gerade erst eingetroffen sein, denn er stand umringt von einer Gruppe, die ihn freundlich begrüßte. Wie immer stach er aus der Menge heraus, als wäre ein gleißendes Spotlight auf ihn gerichtet. Betört betrachtete Lea seine klar geschnittenen Gesichtszüge, die grünen Katzenaugen unter den markant geschwungenen Brauen, das dunkelblonde Haar, das er sich in unbeobachteten Momenten zurückstrich, damit es nicht unentwegt die Wimpern streifte, den leicht zur Seite geneigten Kopf, die selbstsichere Haltung der Schultern ... Die Tatsache, dass er sie trotz seiner Unnahbarkeit wie ein Magnet anzog, verärgerte sie mehr als die erzwungene Kostümierung und der zu absolvierende Pflichttermin.
Adam und die kleine Gruppe von elegant gekleideten Opernbesuchern standen ein Stück unterhalb der Balustrade, die Lea sich wegen der guten Aussicht ausgesucht hatte. Regungslos wartete sie ab, bis sein Blick sie fand. Für den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte sie, Faszination in seinen Augen lesen zu können, doch schon im nächsten Moment war da wieder nur kühle Aufmerksamkeit. Sie schob den Unterkiefer vor und spürte, wie sich eine Zornesfalte zwischen ihre Augen grub.
Eine Zeit lang starrten sie einander feindselig an. Erst als Adam ihr mit einem ungeduldigen Nicken zu verstehen gab, dass sie gefälligst zu ihm kommen solle, setzte Lea sich betont langsam in Bewegung. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, mit dem Handrücken einfach den roten Lippenstift zu verwischen und ihren programmierten divengleichen Auftritt damit zu karikieren. Doch sie riss sich zusammen.Was hätte sie damit gewonnen? Dass Adam sie wie einen Trotzkopf behandelte, war kaum in ihrem Interesse. Außerdem fragte sich eine aufdringliche Stimme in ihr, wie Adam mit seinen frisch rasierten Wangen und dem noch feucht glänzenden Haar wohl duften mochte.
An seiner Seite angekommen, bemühte sie sich redlich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck und widerstand dem Bedürfnis, Adam zur Begrüßung mehr als einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte Adam mit ungewöhnlichem Ernst. Seine Finger glitten kurz über ihre Taille, dann zog er die Hand schnell wieder zurück. »Sogar dem trotzigen Zug um deinen Mund haftet etwas Verführerisches an.«
So schwer es Lea fiel, sie wandte sich von seinem forschenden Blick ab und konzentrierte sich stattdessen auf die anderen Gäste in der Runde. Zu ihrer Überraschung begrüßten diese sie aufmerksam. Ihr selbst sagten weder Namen noch Gesichter etwas, auch wenn sie sich nicht des Gefühls erwehren konnte, all diesen Menschen schon einmal begegnet zu sein.
Während sie der Hand voll Leute zunickte, bemerkte sie, dass Adams Rechnung aufging: Sie beide gaben ein außergewöhnliches Paar ab. Glänzend zurechtgemacht, merkwürdig entrückt und von dem Hauch eines Geheimnisses umgeben. Der Beifall in den zahlreich auf sie gerichteten Augen war nicht zu übersehen. Als Adam ihr schließlich die Hand um die Hüfte legte, ertappte sie sich dabei, den Moment zu genießen. War das wirklich sie? Verstört nahm sie den von Adam angebotenen Arm und folgte ihm die Treppe hinauf zu ihren Plätzen.
In der kleinen Loge
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