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Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Titel: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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zur Hütte. Das Nest aus Gras und Blättern lag verstreut am Boden. Der Ofenrost war leer. Das bezaubernde, glänzende Spielzeug war verschwunden.
    Eine Ewigkeit lang stand Willie reglos, mit hängenden Armen da und starrte auf den Boden. Dann warf er sich auf Hände und Knie und suchte, wie ein Tier, grunzend und schluchzend und schniefend umher. Von der Tür her beobachtete ihn Gaylord, von einem seltsamen, lähmenden Schrecken erfüllt. Das war einfach nicht fair. Gerade Willie, der schon keine Weihnachtsgeschenke bekommen hatte und zudem nicht alle Tassen im Schrank hatte, hätte das nicht passieren dürfen. Gaylord begann daran zu zweifeln, ob Gott wirklich so tüchtig war, wie man ihn immer hinstellte.
    Willie richtete sich auf. Seine Nase lief, die Backen waren tränenverschmiert, und sein Mund stand offen. Seine Stimme klang so undeutlich, daß Gaylord ihn kaum verstehen konnte. «Wo ist es? Was hast du damit gemacht?»
    Gaylord bekam Angst. «Ich doch nicht. Ich hab’s doch nicht genommen, Willie.»
    «Wo ist es?» wiederholte Willie. Gaylord merkte plötzlich, daß der Abstand zwischen ihnen sich sehr verringert hatte. Er vergaß ganz, Willie zu bemitleiden, und konzentrierte sich auf die reine Selbsterhaltung, drehte sich um und rannte davon.
    Aber mit schwerfälligen Riesenschritten, schnaufend und schluchzend, kam Willie hinter ihm her. Gaylord fühlte seine Knie weich werden und seine Füße schwer wie Blei. Er dachte daran, daß Willie damals gesagt hatte: «Ich mach dich tot, wenn du...» Er versuchte, schneller zu laufen, aber er hatte keine Kraft mehr. Und dann wurde sein Handgelenk mit heißem, rohem Griff umklammert. Der Arm wurde ihm hinter dem Rücken verdreht. «Was hast du damit gemacht?» und bei jeder verwaschenen Silbe wurde ihm der Arm noch weiter verdreht.
    Der Schmerz war unvorstellbar. Er lief wie ein alles verzehrendes Feuer durch seinen ganzen Körper. Die ganze Welt bestand nur noch aus Schmerz. Zwischen Himmel und Erde gab es augenblicklich nichts weiter, keine Mummi, keinen Paps, weder Sonne noch Mond, Gott oder Engel, Leben oder Tod. Nur dieses Feuer des Schmerzes, in dem er wie ein Blatt Papier zusammenschrumpfte und sich wand.
    «Ich war’s nicht, ich war’s nicht», schrie er.
    Willie ließ ihn los. Er weinte jetzt nicht mehr. Er hockte sich auf die Erde und starrte in unendlicher Hoffnungslosigkeit in die Landschaft. Für Gaylord kehrten Himmel und Erde langsam wieder zurück. Noch überkam ihn der Schmerz in großen Wellen, ebbte aber langsam ab und erfüllte nicht länger das ganze Universum. Jetzt hätte er davonrennen sollen. Aber er tat es nicht. Obwohl ihm der Arm schlaff herunterhing und er ihn sicher bis an sein Lebensende nicht mehr würde gebrauchen können und obwohl er durch die erste Begegnung mit dem Schmerz noch ganz benommen war, brachte er es nicht fertig, fortzulaufen und Willie in der Winterdämmerung allein zu lassen. Er stand da, seine kräftigen Beinchen weit gespreizt, und hielt sich die Schulter mit einer Hand. «Wer wußte denn außer uns, daß es da versteckt lag, Willie?» fragte er.
    Willie starrte ins Weite.
    «Du mußt es jemand gezeigt haben», sagte Gaylord.
    «Warum bist du gekommen und hast es genommen?» stotterte Willie.
    «Ich bin’s doch nicht gewesen. Jemand anderes muß das Versteck noch gekannt haben.»
    «Ich mach den tot, der’s war», sagte Willie und starrte leeren Blickes in die Ferne. Er saß vollkommen unbeweglich da. Nur seine Finger zuckten und krallten sich zusammen, als umklammerten sie bereits den Hals des Opfers. «Ich mach dich tot, wenn du’s warst.»
    «Aber ich war’s ja nicht», beteuerte Gaylord.
    «Ich erzähl’s meinen Brüdern», sagte Willie.
    Gaylord spürte eine kalte Leere im Magen. Willie hatte mindestens ein halbes Dutzend Brüder. Sie alle waren grausam, bösartig und schreckten vor nichts zurück. Obwohl sie für Willie keinen Finger krumm machen würden, war ihnen jede Gelegenheit recht, jemanden, der gegen sie allein stand, zu quälen. Mit dem untrüglichen Instinkt eines Kindes ahnte Gaylord das und fürchtete sich davor. Wenn Willie seinen Brüdern tatsächlich alles erzählte, war Gaylord, das wußte er jetzt schon, wirklich in Gefahr.
    Aber noch war es nicht soweit. Er sagte: «Willie, ich muß jetzt gehen», und trat einen Schritt zurück. Willie warf sich herum und versuchte, ihn am Knöchel zu packen, griff aber daneben.
    Gaylord rannte los. Nach einer Weile sah er sich um. Willie lag noch

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