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Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Titel: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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immer auf der Erde. Da es schon dämmerig war, konnte man nicht erkennen, ob er weinte.
     
    Sein Arm war steif, und stechende Schmerzen durchfuhren ihn. Aber er konnte ihn immerhin wieder bewegen. Ihm war außerdem ein bißchen übel und schwindlig, und zudem war er nicht sicher, ob man ihn nicht einem Verhör unterziehen würde.
    So öffnete er denn ganz vorsichtig die Küchentür. Keiner da. Ungesehen und ungehört erreichte er die Treppe. Auf Zehenspitzen schlich er sich hinauf in sein Zimmer und fing an, Trompete zu blasen. Übrigens mit großer Raffinesse. Er tutete in wohldosierten Abständen ein paar kleine Töne. Töne, welche die Familie im unteren Stockwerk nur im Unterbewußtsein aufnehmen würde. Dann ein bißchen lauter. Und dann ein gewaltiges, langanhaltendes Getute, so daß niemand an Gaylords Anwesenheit zweifeln konnte. Den ganzen Nachmittag hat er auf dieser verdammten Tute geblasen, würde Opa sagen. Tante Bea würde ihm beipflichten: Ja, das hat er. Das liebe Kind. Und damit hätte das Opfer ein wunderbares, handfestes Alibi.
    Aber das Opfer hatte nicht mit Mummi gerechnet. «Den ganzen Nachmittag hat er auf dieser verdammten Tute geblasen», sagte Opa.
    «Ja, das hat er. Das liebe Kind», sagte Tante Bea. Aber
    Mummi sagte: «Irgend etwas stimmt nicht mit Gaylord. Das hab ich im Gefühl.» Sie stieg die Treppe hinauf und stieß die Tür zu Gaylords Zimmer auf.
    Das hinter ihm liegende schreckliche Erlebnis und dazu noch die Anstrengung des Blasens waren zuviel für Gaylord gewesen. Er fühlte sich ganz schwach auf den Beinen, er schwitzte, und das Zimmer fing an, sich um ihn zu drehen. Mit weit aufgeblasenen Backen blickte er Mummi angstvoll entgegen. «Gaylord», fragte sie, «was hast du denn?»
    Er schüttelte den Kopf und blies weiter, obwohl die Anstrengung ihn fast umbrachte.
    «Gaylord! Laß dieses idotische Getute und hör zu.»
    Er ließ die Trompete sinken und sah sie an. Seine Unterlippe begann zu zittern.
    Noch nie hatte sie ihn so hilflos gesehen. Wortlos kam sie zu ihm, setzte sich auf den Bettrand und nahm ihn in die Arme. Einen Moment lang wehrte er sich. Dann fiel sein dunkler Schopf an ihre Brust. Sie hielt ihn eine ganze Weile in ihren Armen und wartete auf die Tränen. Aber es kamen keine Tränen. Nur ein unterdrücktes Schluchzen schüttelte seinen Körper. Das letzte Licht wich aus dem Zimmer. Sie streifte mit den Lippen über sein Haar. «Was hast du denn?» flüsterte sie.
    Er schwieg. «Was hast du denn?» fragte sie noch einmal.
    «Nichts», sagte er.
    Die Angst ließ ihre Stimme scharf klingen. «Gaylord, du mußt es mir aber erzählen.»
    «Nichts», wiederholte er und machte sich von ihr los.
    «Nun gut», sagte sie sanft. «Dann reden wir eben später darüber, wenn du dich besser fühlst.»
    Er schwieg.
    «Komm, ich mach dir eine Wärmflasche und pack dich gemütlich ins Bett», versuchte sie ihm zuzureden.
    «Es ist doch Weihnachten», sagte er aufgebracht.
    «Na schön», sagte sie unsicher. «Aber eins mußt du mir noch sagen. Hast du dir weh getan?»
    «Weh getan?» Er machte ein Gesicht, als hätte er nicht verstanden.
    «Ja, weh getan», sagte sie und wurde plötzlich ärgerlich.
    «Nein, Mummi», antwortete er kläglich.
    Sie sah ihn an. Es gab so viele Fragen, die sie gern gestellt hätte. Statt dessen sagte sie verständnisvoll. «Also, dann geh ich jetzt. Komm bitte runter, wenn du soweit bist.»
    In der Tür blieb sie noch einmal stehen. «Bist du ganz sicher, daß du mir nichts erzählen möchtest?»
    Es war bereits zu dunkel, um sein Gesicht erkennen zu können. Aber er sagte nichts. Sie ging, um Paps zu suchen. Sie wollte ihn nicht beunruhigen, nicht an Weihnachten, und versuchte es daher auf die leichte, literarische Tour. «Gaylord trägt eine Lilie auf der Stirn», erklärte sie.
    Paps sagte: «Ich fürchte, La Belle Dame würde ihn noch ein bißchen zu jung finden. Vielleicht hat er sich nur überfressen. »
    Jetzt konnte sie es doch nicht mehr für sich behalten. «Jocelyn, ich mache mir Sorgen. Er sah schlimm aus. Saß da im Halbdunkel und trompetete, als ob sein Leben davon abhinge. Es... es hat mir fast das Herz gebrochen.»
    «Und er hat dir nicht verraten, was ihn quält?»
    «Den Teufel hat er getan! Du kennst doch Gaylord. Er hat das Zeug zu einem Märtyrer in sich.»
    «Ich werde mal ein Wörtchen mit ihm reden», sagte Paps.
    Sie schüttelte den Kopf. «Nein, laß ihn lieber in Ruhe. Er hat Kummer und versucht, ihn gewaltsam zu

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