Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Migräneanfälle», fuhr sie fort.
«Arme Rose», sagte Bobs.
«Ja, arme Rose.» Tante Becky kicherte. Dann waren sie still.
Jetzt goß es mit Macht. Der Regen prasselte aufs Dach, lief in Bächen und Rinnsalen in den Hof und bildete Tausende von kleinen Kreisen auf der glatten Oberfläche des Flusses. Der Donner grollte und dröhnte, und die Blitze spiegelten sich im nassen Gras und in den tausend Pfützen wider. Mit schmeichelnder Stimme sagte Tante Becky: «Es sieht so aus, Bobs, als ob wir hier ein Weilchen bleiben müßten.»
Tante Rosies junger Mann antwortete nicht. Aber gleich darauf gab er Tante Becky einen Kuß. Und hörte gar nicht auf, sie zu küssen. Gaylord konnte es hören und war davon seltsam überrascht. Nicht, daß er es dem jungen Mann übelnahm. Obwohl Gaylord im allgemeinen nichts fürs Küssen übrig hatte, küßte er Tante Becky auch ganz gern.
Der Höhepunkt des Gewitters war nun vorbei. Es verzog sich gen Osten und ließ nur einen Dauerregen zurück. Plötzlich wurde es Gaylord langweilig. Er hatte alles gesehen, was er wollte. Jetzt hatte er wieder Lust auf Gesellschaft. Wie Neptun aus den Wogen tauchte er aus dem Heu auf und wanderte leutselig zu Tante Becky und Tante Rosies Liebhaber hinüber, um mit ihnen zu plaudern.
Aber selbst Gaylord merkte, daß er nicht willkommen war. Tante Beckys Gesicht war gerötet. Ihre Augen blickten erschreckt. «Gaylord! Wie lange bist du denn schon hier?» fragte sie.
«Schon ewig», sagte er. «Einmal hat mich fast der Blitz getroffen. Ich hab gemerkt, wie er mir den Arm entlanggezischt ist.»
Tante Becky sah ihn scharf an. «Wußtest du, daß Mr. Roberts und ich hier sind?»
«Natürlich. Ich hab euch doch heraufkommen hören.»
«Uns hat das Gewitter überrascht», sagte Tante Becky. «Wir mußten unterschlüpfen.» Ihr großer Hut lag neben ihr im Heu. Sie zog ihn zu sich heran und spielte mit den Bändern.
«Ja, ich weiß», sagte Gaylord kurz angebunden. Er war ja zwar noch sehr klein, aber so genau brauchte man’s ihm doch nicht zu erklären. Er trat auf die Leiter zu. «Wo willst du hin?» fragte Tante Becky.
«Zurück ins Haus», sagte er. Zu Mr. Roberts gewandt, meinte er zuvorkommend: «Ich werde Tante Rosie sagen, daß Sie hier sind. Sie dachte schon, Sie kämen nicht mehr.»
«Laß das lieber», sagte Mr. Roberts hastig. «Das ist nicht notwendig, Gaylord.» Er suchte in seinen Taschen. «Hier, sicher hast du Bonbons gern.» Er gab Gaylord einen Shilling.
«Danke, Mr. Roberts», sagte Gaylord höflich. Er machte Anstalten, die Leiter hinunterzusteigen.
«Gaylord», rief seine Tante.
Er hielt inne. «Ja, Tante Becky?»
«Ach, nichts», sagte sie. Gaylord kletterte hinab. Er fing an, sich zu fragen, ob Tante Becky nicht ein bißchen verdreht sei.
Er rannte über den Hof, wobei ihm der kalte Regen auf den Kopf prasselte und das Wasser der Pfützen bis zu seinen Knien spritzte. Dann war er wieder in der dunklen Wärme des Wohnzimmers. «Gaylord, wo bist du gewesen?» rief Mummi.
«Hab das Gewitter angeguckt», sagte er. «Von einem Geheimplatz aus.»
«Wer hat dir das erlaubt?» sagte Opa tadelnd. «Deine Mutter hat sich fast zu Tode geängstigt.» Er schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. «Ich versteh das nicht! Diese Frauen! Deine Großtante bekommt Krämpfe, nur weil es ein bißchen donnert, und Rose mault und maunzt hier herum, nur weil ihr junger Mann nicht aufgetaucht ist...»
Gaylord war stolz, eine frohe Botschaft verkünden zu können. «Oh, dem geht’s gut. Er liegt mit Tante Becky im Heu», sagte er beruhigend.
Die Reaktion auf diese gute Nachricht verblüffte Gaylord außerordentlich. Ganz langsam erhob sich seine Tante aus ihrem Sessel. «Was hast du da eben gesagt?» fragte sie gedehnt. Ihr ohnehin blasses Gesicht war kalkweiß geworden. Gaylord kam es so vor, als wenn sie turmhoch über ihm emporwüchse. «Was hast du da gesagt?»
«Ich hab gesagt, daß es ihm gut geht. Hätte ja sein können, daß du denkst, der Blitz hätte ihn getroffen, oder so was.»
«Ich wünschte, das wäre geschehen», sagte Tante Rose bitter.
«Mich hat er beinah erwischt», sagte Gaylord. Er verzog sein Gesicht und rieb sich den Arm. «Ich hab’s richtig gespürt, bis hierher. Es hat mächtig gekribbelt.»
Aber Tante Rose konnte er damit nicht beeindrucken, ja, sie schien nicht einmal zuzuhören. Jedenfalls nicht Gaylord. Sie lauschte auf Schritte - muntere, trappelnde Schritte, die die Küche durchquerten. Dann öffnete
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