Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
sich die Tür, und Tante Becky kam herein. Heiter, kokett, selbstsicher wie immer - aber mit Strohhalmen in ihrem strohblonden Haar.
Tante Rose trat auf sie zu. «Wo ist er?»
Becky sah sie mit einem lustigen Stirnrunzeln an. «Wer, Schätzchen?»
«Na, wer schon. Bobs natürlich.»
«Schätzchen, woher soll ich das denn wissen? Ist er denn nicht gekommen? »
«Nein, ist er nicht. Und soll ich dir auch sagen, warum? Weil du ihm aufgelauert hast.»
«Aber was für ein Unsinn. Ich hab ihn nicht einmal zu Gesicht gekriegt.»
Das war für Gaylord eine Offenbarung. Bis jetzt hatte man ihm immer weisgemacht, daß nur er log; daß Erwachsene gar nicht fähig seien, die Unwahrheit zu sagen. Und jetzt tischte Tante Becky so faustdicke Lügen mit einer Gewandtheit auf, die er nur bewundern konnte.
Aber Tante Rose hatte sich zum Tisch zurückgetastet und ließ sich, steif wie eine uralte Frau, auf einen Stuhl fallen. Sie schien am Ende ihrer Kräfte, als sie sagte: «Das ist der Gipfel der Gemeinheit, Becky. Du hast dir noch jeden Mann geangelt, der sich hier nur sehen ließ. Nur ein einziger hat sich jemals um mich gekümmert, Bobs. Der einzige. Und den hast du dir jetzt auch noch geschnappt. Wie kann man bloß so gemein sein, Becky.»
Becky schwebte zur Treppe. «Ich habe keine Ahnung, wovon du redest», sagte sie.
In diesem Augenblick trat Mr. Roberts ins Zimmer. «Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, Rose...» begann er. «Aber das Gewitter...»
Weiter kam er nicht. Rose starrte ihn wie hypnotisiert an. Ihn noch immer fixierend, erhob sie sich, wobei ihre Hand über den Tisch tastete. Ihre Finger umklammerten eine Schere - und plötzlich stürzte sie sich auf Bobs.
«Nein», schrie er. «Nein.» Er entwand sich ihr, doch die Spitze der Schere riß ein großes Loch in seinen Jackenärmel. Eine Sekunde lang starrte Rose ihn mit aufgerissenen Augen und weitgeöffnetem Mund an. Dann ließ sie die Schere fallen, sank in einen Stuhl und schluchzte hysterisch.
Gaylord beobachtete das alles fasziniert. Diese Sache hier eben war womöglich noch aufregender als das Gewitter.
So ähnlich wie ein Gewitter war es ja auch gewesen. Alle hatten stumm zugesehen, wie zu Eis erstarrt, und dann war auf einmal alles zugleich geschehen - die Schere blitzte durch die Luft, Opa donnerte Rose an, sie solle den verdammten Blödsinn lassen, die Frauen kreischten, und Mr. Roberts schrie wie am Spieß. Und dann am Ende, genau wie der Regen, Roses Tränen.
Gaylord beobachtete die Schluchzende mit kühler Ungerührtheit. Ihr Gesicht war ganz fleckig, und aus ihrer Kehle drangen gräßliche Laute. Alles Leben war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie sah aus, als wolle sie sterben und hätte nicht einmal dazu die Kraft. Gaylord beschloß, Tante Rose niemals zu heiraten. Sie sah abstoßend aus. So wie sie sich heute auf geführt hatte, konnte man ihr ja alles Zutrauen.
Und dann erwischte ihn Mummi und zog ihn mit ihrem unfehlbaren Talent, einem immer alles zu verderben, unsanft aus dem Zimmer. Aber er war eigentlich doch ganz zufrieden. Ein herrlicher Tag. Er hatte ein Gewitter mit angesehen und war beinahe vom Blitz getroffen worden. Er hatte Tante Becky beim Lügen erwischt und Tante Rose mit einer Schere verrückt spielen sehen. Die Erwachsenen, überlegte er, waren keineswegs so vollkommen, wie sie einem immer weismachen wollten. Heute hatte er immerhin ein oder zwei Dinge gelernt, die ihm nützlich sein konnten, wenn man ihm das nächste Mal etwas Vorhalten würde.
Nur zwei Männer hatten sich jemals für Rose interessiert - Bobs und Stan Grebbie. Nur zwei Männer hatten ihr je Herzklopfen verursacht. Der eine von ihnen war weit fort, an einer Schule in Durham. Sie würde ihn vermutlich nie mehr wiedersehen. Und der andere hatte ihr dies angetan.
Das Gesicht in die Kissen vergraben, lag sie auf ihrem Bett und schluchzte noch immer. Da klopfte es an die Tür. «Laß mich in Frieden», schrie Rose.
Die Tür öffnete sich. May kam herein, setzte sich aufs Bett und nahm ihre Schwägerin fest in die Arme. «Wein doch nicht, Rose, wein doch nicht», bat sie.
«Laß mich in Frieden», sagte Rose und versuchte, sich zurück aufs Bett zu werfen.
May hielt sie aber fest umschlossen. «Rose, Liebes, wein doch nicht. Er ist es gar nicht wert. Kein Mann auf der Welt ist das wert.» Außer einem einzigen, fügte sie im stillen hinzu.
«Wo ist er?»
«Fort. Er hat Vater nur einmal angesehen und ist davongerannt, als wenn der Teufel
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