Morgenstadt - wie wir morgen leben
Entscheidung fiel, hier die Olympischen Winterspiele 2014 auszutragen, hatten die Verantwortlichen Sorge, Sotschi könne bei den anstehenden umfangreichen Bauvorhaben in der Stadt und im nordöstlichen Skigebiet einen Verkehrsinfarkt erleiden. Hinzu kommt, dass die Stadt nach Olympia auch noch Spielstätte bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 werden wird, zudem soll der Große Preis von Russland der Formel 1 ab 2014 jährlich in Sotschi stattfinden. Ein Riesenprogramm für eine relativ kleine Stadt.
Allein für die Olympischen Spiele müssen mehr als 180 Bauwerke errichtet und etwa 60 Millionen Tonnen Baumaterial bewegt werden. Dafür ist die Infrastruktur der 350000-Einwohner-Stadt nicht ausgelegt. Es gibt zwar zwei kleine Häfen, die aber eher für Touristenboote gedacht sind, einen Bahnhof für die eingleisige Eisenbahnstrecke entlang der Küste und eine Reihe von Straßen, die fast alle zu einem großen Kreisverkehr im Zentrum der Stadt führen. Die Gebirgsregion im Hinterland ist nur durch wenige schmale Serpentinenstraßen erschlossen, die für einen ausgedehnten Lastwagenverkehr nicht robust genug sind. Und obwohl schon seit 1984 ein neuer Flughafen existiert, ist immer noch der alte, kleine in Betrieb.
DEN VERKEHRSINFARKT VERHINDERN
Um Sotschis Infrastrukturprobleme zu lösen, erhielt 2008 das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML in Dortmund den Auftrag, eine Ver- und Entsorgungsstrategie und die Logistik für die Bauphase der Olympischen Spiele zu entwickeln. „Wir mussten folgende Fragen klären: Wie schafft man es, die benötigten Baustoffmengen rechtzeitig an die richtigen Stellen zu lenken? Wie kann man Hafen, Bahnhof, Flughafenund die diversen Baustellen optimal miteinander verbinden? Wo lassen sich größere Materialmengen zwischenlagern? Und wie gelingt es trotz der Belastungen, die Bevölkerung und die Kurgäste in der Stadt während der Bauphase nicht über Gebühr zu belästigen?“, zählt Institutsdirektor Professor Uwe Clausen auf.
Eine echte Herausforderung für die Spezialisten des IML also, zumal sie sich auch noch mit fremder Sprache und Arbeitskultur auseinandersetzen mussten: „Es begann schon mit der Anreise, die in einer alten Tupolew von Aeroflot erfolgte“, erzählt Joachim Kochsiek. „Da musste ich einen Kollegen mit Flugangst erst einmal überreden einzusteigen. Aber alles ging gut, und wir landeten auf dem alten Flughafen von Sotschi, der nicht einmal eine moderne Gepäckausgabe hat. Wir mussten unsere Koffer von einem Lastwagen vor dem Gebäude selbst abholen.“ Dafür freuten sich die Forscher über die schönen Hotels, denn „die waren auf Westniveau, sowohl was den Luxus als auch was die Preise betrifft“.
Nun galt es, möglichst genaue Daten der vorhandenen Infrastruktur zu erhalten und die benötigten Transportmengen für die Bauvorhaben realistisch abzuschätzen. „Die russischen Partner waren auch mehrfach bei uns in Dortmund und haben sehr detaillierte Informationen mitgebracht“, sagt IML-Forscher Bernd Schmidt, der für das Softwaresystem zuständig war. „Schnell wurde klar, dass während der Bauzeit in der Stadt teilweise mehr LKWs unterwegs sein würden als Privatautos. Wir mussten also Lösungen ermitteln, wie man alles unter einen Hut bringen kann. So erarbeiteten wir beispielsweise Vorschläge, wie man den Zugang zu den beiden Häfen möglichst effizient gestalten kann, die massiv ausgebaut werden sollten. Es wurde sogar ein Sumpf trockengelegt, damit man mehr Platz für die Infrastruktur erhält.“
Joachim Kochsiek erinnert sich, wie er und seine Kollegen im Februar 2009 bei milden 20 Grad Wärme die Stadt und ihre Zugangswege inspizierten. Viele Skitouristen waren auf dem Flughafen, denn die Skisaison war in vollem Gange, und an einigen Bahnhöfen war das Militär präsent, denn kurz zuvor hatte es einen Konflikt mit dem benachbarten Georgien gegeben. In intensiven Gesprächen mit den russischen Partnern war schnell klar, dass ein zweigleisiger Ausbau der Bahnlinie entlang der Küste unabdingbar warund dass eine Entlastungsstraße vom „Coastal Cluster“ hinauf ins Gebirge zum „Mountain Cluster“ für den allgemeinen Bauverkehr – und nicht nur für ein Unternehmen – freigegeben werden musste. „Solche Vorschläge haben die russischen Offiziellen heftig diskutiert, es gab viele Telefonate, wahrscheinlich mit vorgesetzten Stellen“, vermutet Kochsiek. „Wir machten immer wieder die Erfahrung, dass die Hierarchien in
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