Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
spüre es auch.«
Verunsichert weicht Nevis von mir zurück und hinterlässt dabei Kälte in meinen Armen. Er sieht sich um und wendet sich Iria zu, die uns mit schief gelegtem Kopf beobachtet.
»Ich sehe noch einmal unsere Sachen durch, ob wir auch alles haben.« Damit verschwindet Nevis, obwohl die Rucksäcke im selben Zimmer stehen.
»Seine Gefühle machen ihn nervös«, sagt Iria. »Nevis ist innere Kälte gewohnt. Immerhin ist er der Winter. Die Wärme, die er dank dir empfindet, macht ihn unruhig, doch er erliegt ihr immer mehr.«
Ich nicke ihr zu. Man kann wohl von einem Wesen, das eine Ewigkeit in Einsamkeit verbracht hat, nicht verlangen, dass es gleich den Hebel umlegen kann. Aber immerhin sieht Nevis jetzt ein, dass wir wie ein zerbrochenes Schmuckstück sind, dass nur zusammen ein Ganzes entsteht.
Nevis nimmt meine Hand. Sein Händedruck ist fest und warm, während ich vor Aufregung zittere. Der leichtere unserer beiden Rucksäcke ist fest um mich geschnallt und ich überprüfe mit meiner freien Hand noch einmal den Sitz des Bauchgurts. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und mein Atem geht stoßweise gegen meinen umgebundenen Schal. Ich warte darauf, dass Nevis das Zeichen zum Losrennen gibt.
»Direkt zur Tür und hinaus«, erinnert er mich. »Dann springst du mir in die Arme und ich trage dich durch den Garten. Versuche so wenig wie möglich zu atmen und halte den Schal vor dein Gesicht, mit ein wenig Glück spürt Gaia deine Anwesenheit dann nicht. Iria? Du bleibst direkt hinter mir, verstanden?«
»Verstanden.«
»Wenn wir am Portal sind, gehen wir ohne zu zögern hindurch. Ich werde versuchen uns zu lenken, sofern es mir möglich ist, die Energie zu steuern. Mit Glück landen wir in der sicheren Zone oder im Grenzgebiet.«
Ich höre nur noch meinen Atem und ein Rauschen in meinen Ohren.
»Schließ die Augen, wenn wir im Garten sind«, flüstert Nevis und ich nicke. Sein Gesicht ist genau wie meins verhüllt, doch die Frostaugen geben mir den Mut, den ich benötige. »Los!«, ruft er und ich spüre, wie mich ein starker Sog umfasst. Die Marmortreppe in Gaias Haus erscheint im gleichen Moment, in dem wir Nevis‘ Hütte verlassen haben, und fast wäre ich hinuntergefallen, hätten Nevis‘ Griff und mein schwerer Rucksack mich nicht im Gleichgewicht gehalten. Ich eile die Stufen hinunter und sehe, dass die Haustür sich bereits öffnet. Gaias Heim weiß, wo wir hinwollen, sie auch? Ich sehe nicht zurück, sondern stürme nach Nevis durch die Tür und springe in seine bereits auf mich wartenden Arme. Zitternd presse ich mein vom Schal fast ganz verdecktes Gesicht in seine Halsbeuge und schließe die Augen, als ich das Zischen seines Eises auf dem Magmafluss höre. Nevis‘ Lauf fühlt sich sicher und geübt an. Er gerät weder ins Straucheln noch stolpert er.
»Da hinten!«, höre ich Iria rufen. Wie gerne würde ich meine Augen öffnen.
»Der Sonnenaufgang«, ruft Nevis zurück. »Wir müssen schneller werden!«
Das Zischen des Frosts wird weniger und ich vermute, dass das Magma verschwunden ist und der Boden nur noch glüht. Schließlich bleibt Nevis abrupt stehen und setzt mich ab.
»Du kannst jetzt selber laufen«, sagt er und ich sehe mich um. Es dämmert und Nebelschwaden liegen in der Luft. »SCHNELL!« Nevis deutet auf ein Tor in gut zweihundert Metern Entfernung. Bei Tage würde man es wohl vor lauter Pflanzen nicht sehen. Wir rennen weiter und weil Nevis mich nicht mehr tragen muss, sind wir schneller. Das gusseiserne Tor baut sich vor uns auf. Es ist riesig und an den Seiten beginnen sich bereits die ersten, robusten Efeuranken zu schlängeln.
»Schnell, öffne es!«, ruft Iria Nevis aus seinen Gedanken wach. Der Winter schüttelt sich kurz und zieht dann an dem schweren Eisen, welches sich ächzend und quietschend öffnet.
»Geht durch!«, fordert er Iria und mich auf und wir folgen seiner Anweisung. Doch kaum sind wir auf der anderen Seite, zurrt das Efeu am Tor und reißt es Nevis förmlich aus der Hand. Eisen knallt auf Eisen und Schlingpflanzen machen sich daran es zu verschnüren.
»NEIN!«, kreische ich panisch. »Nevis!«
Iria knurrt nervös neben mir, doch Nevis sieht sich bereits um und greift dann in die Stäbe. Ehe ich mich versehe, nutzt er das Efeu und die Schlingpflanzen dazu, an dem großen Tor hinaufzuklettern. Als er oben die Beine darüberlegt, atme ich erleichtert durch. Mit einem katzenhaften Sprung landet Nevis neben mir. Sein Atem geht heftig und er
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