Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
gemeinsam. Um uns herum liegt der gefrorene See und das Echo der Vergangenheit ist so erdrückend leise, dass ich das Gefühl habe, zu Boden gepresst zu werden. Zu viele Menschen haben hier ihr Leben verloren. Ein Ort, wie geschaffen zum Betrauern der Toten.
»Lass uns einen Unterschlupf suchen und uns für heute ausruhen«, schlage ich vor. Die letzten Tage und die Kälte stecken mir in den Knochen und Nevis sieht gar nicht gut aus. Zu meinem Schrecken nickt er auch ergeben, ohne den geringsten Widerstand zu leisten. Wir helfen uns gegenseitig auf die Beine.
»Das Grenzgebiet liegt dort«, sagt er und deutet in die Richtung, die er zuerst eingeschlagen hatte. »Aber wir sollten erst einmal auf schnellstem Wege vom See herunterkommen.«
»Ja, finde ich auch.«
Nevis hält mir dieses Mal seinen Arm hin und ich hake mich bei ihm unter. Aneinandergepresst gehen wir den zuletzt eingeschlagenen Weg Richtung Ufer weiter.
»Wir können von Glück sagen, dass wir nicht im Meer oder in einem radioaktiv verstrahltem Gebiet gelandet sind«, sagt Nevis, nachdem er einen Fuß auf die gefrorene Erde gesetzt hat. Ich folge ihm und sehe noch einmal zurück über den See. Was mir jetzt erst auffällt, ist, dass es nirgendwo Bäume oder Pflanzen gibt. Hier draußen hat nichts überlebt. In der Ferne vor mir kann ich nur hier und da die Reste von zerfallenen Bauten und Wracks der Fortbewegungsmittel der Menschen erkennen.
»Moment mal«, grübelt Nevis. »Ich glaube, ich weiß, wo wir uns verstecken und ausruhen können.« Er sieht sich um und deutet dann in eine Richtung in der keinerlei Ruinen zu stehen scheinen. Die Sicht ist ein wenig durch fallenden Schnee getrübt, weshalb ich vermutlich nicht sonderlich weit sehen kann. Es ist schwer für mich einzuschätzen, da diese Gegend so fremdartig wirkt. Kaum zu glauben, dass es hier einmal grün und voller Leben gewesen ist. Nevis zieht mich sanft mich sich und ich laufe neben ihm her. Wegen der Kälte sprechen wir nicht, aber ich merke, dass er immer mehr zu zittern beginnt. Die Erschöpfung nagt an mir und ich habe das Gefühl, bald nicht mehr laufen zu können, aber irgendetwas treibt mich an, hält mich aufrecht. Nach einiger Zeit meine ich am Horizont etwas zu erkennen. Der Schneefall ist heftiger geworden und zwingt mich jetzt immer öfter die Augen zu schließen.
»Da ist es!«, ruft Nevis aus und deutet auf dieses längliche Ding, was ich im Schneegestöber vor uns erkannt habe. »Ich habe es mir durch mein Portal oft angesehen.«
»Was ist das?«, fragte ich.
»Ein Flugzeug«, erklärt Nevis. »Das einzige, das noch halbwegs als solches zu erkennen ist.«
»Ein Flugzeug«, wiederhole ich erstaunt und beschleunige meinen Schritt. Ich kenne sie nur aus alten Filmen, doch niemals hätte ich mir ihre wahre Größe ausmalen können. Je näher wir kommen, desto erstaunter bin ich.
»Als die Luftverschmutzung immer schlimmer wurde, blieben die Flugzeuge am Boden. Die meisten sind durch Fluten, Bombardierungen oder schlimme Erdbeben zerstört worden. Andere wiederrum sind zerschellt. Aber dieses hier …« Nevis berührt vorsichtig den gefroren Rumpf des Ungetüms vor uns. Man kann schwach erkennen, dass es mal einen blauen Strich auf der Seite gehabt haben muss. Ein Schriftzug ist noch zu erahnen, allerdings sind nicht alle Buchstaben lesbar. Nur: Sc...ina...ian...Airl..es. Mein Blick bleibt jedoch an einem der riesigen runden Dinger hängen. Das Flugzeug hat zwei davon unter dem langen Flügel.
»Turbinen«, erklärt Nevis.
»Unglaublich«, flüstere ich vor mich hin.
»Komm, das Wrack ist auf der anderen Seite aufgerissen, dort kommen wir hinein. Vielleicht gibt es da drin irgendwo eine Ecke, wo wir uns niederlassen können.« Nevis‘ Augen sehen mich forschend an. Ich glaube, er hat mir meine Erschöpfung angemerkt, weshalb ich nicke. Wir gehen vorne an der spitzen Nase des Flugzeugs vorbei und ich kann genau erkennen, wo es vor Hunderten von Jahren aufgeschlagen ist. Das Metall ist dort deutlich eingedellt. Die andere Seite des Rumpfes schockt mich jedoch sehr. Ein Loch klafft dort mittendrin und zieht sich gut über die Hälfte der Länge hin. Ein Fluss von vollkommen zerstörten Sitzen und anderen Dingen, die ich nicht identifizieren kann, ergießt sich aus dem Riss wie Blut aus einer Wunde.
»Ich weiß«, sagt Nevis. »Aber es bietet wenigstens etwas Sichtschutz.« Damit klettert er auf einen Berg von Schrott und hält mir eine Hand hin. Ich ergreife sie und
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