Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
ihn so gelöst sehe.
»Danke, Maya«, sagt er und die Hand in meinem Haar greift fester zu.
»Meinst du, die Göttin wird sehr wütend sein?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.« Er hat so unglaublich blaue Augen … wie einer dieser Schneehunde aus den Büchern.
Ungewissheit, wo wir nur hinsehen. Aber wir müssen es probieren und durch die Möglichkeit Iria und meine Mutter wiederzusehen, habe ich nun doppelt Mut für diese Reise.
»Lass uns hoffen, dass wir auf der Marmortreppe nicht sofort Mutter in die Arme laufen«, sagt Nevis und zurrt den letzten Rucksack zu.
»Es gibt da Dinge, vor denen ich mehr Angst haben«, seufzt Iria und sieht zu mir. Ich versuche sie anzulächeln, doch auch ich zittere am ganzen Körper.
»Ich hoffe, wir landen zumindest im Grenzgebiet«, sage ich, denn ich mache mir mehr Sorgen um die Gefahren auf der Erde. Auch der Garten ist mir nicht geheuer, aber in dem Punkt vertraue ich auf Nevis und seinen Frost.
»Wir haben noch ein paar Stunden bis zum Morgengrauen«, grübelt Nevis laut, »ich glaube, ich gehe noch einmal alles mit klirrender Kälte überziehen. Wer weiß wofür es gut ist.« Er sieht zu mir und packt mich liebevoll an den Oberarmen. »Kommst du klar?«
Ich sehe zu Iria und nicke.
»Wenn Mutter kommen sollte, dann …« Er stockt. »Dann bestehe bitte darauf, dass ich mich von dir verabschieden darf, ja?«
»Ich werde mich weigern, ohne einen Abschied von dir zu gehen«, versichere ich ihm, woraufhin er seine Lippen auf meine legt. Werde ich mich je an dieses Gefühl gewöhnen? Dieses Prickeln und die Sehnsucht nach mehr, die sich wie eine Welle aufbaut und über mich hinüberschwappt, um mich mit sich zu reißen. Ich will ihn nicht gehen lassen, doch er hat Recht. Sollten wir in der Eiszone landen, was sehr wahrscheinlich ist, dann ist es besser, dass das Gift der Vergangenheit fest im Eis eingeschlossen ist. Nevis verschwindet ohne ein weiteres Wort, aber der letzte Ausdruck in seinem Gesicht sagt alles. Auch sein Verschwinden löst die Anspannung in der Luft nicht auf. Nervös beginne ich auf und ab zu laufen, während Iria still sitzen bleibt und mir nachsieht.
»Du bist sehr mutig, Maya«, sagt sie. »Das erwartet man gar nicht von einem Mädchen, das so aufgewachsen ist wie du.«
Ich kaue an einem Fingernagel und brumme nachdenklich. In der Kleidung, die Nevis mir erschaffen hat, kann ich mich nur schwerlich bewegen. Ich habe so viele Lagen Stoff auf mir, dass ich mich doppelt so breit fühle. Nevis wollte, dass ich sie sofort anziehe, für den Fall, dass wir überstürzt aufbrechen müssen. Die Angst, dass Gaia jeden Moment hier auftauchen könnte, ist fast noch größer als die, auf unserer Flucht zu sterben. Der Gedanke, ohne Nevis zu sein, erscheint mir unerträglich.
»Alles okay?«, fragt Iria. »Bist du dir sicher, dass du das tun möchtest?«
»Es gibt keinen anderen Weg«, antworte ich, ohne sie anzusehen.
»Es gibt immer einen anderen Weg.«
»Dieses Mal nicht. Nicht wenn ich weiß, dass ein Leben mit Nevis, meiner Mutter und meiner Iria auf mich wartet.«
»Ich verstehe.« Danach sagt die Wölfin nichts mehr.
Irgendwann setze ich mich und versuche ruhig zu atmen. Ich will nicht mehr warten, sondern am liebsten sofort los. Die Minuten ziehen sich wie Stunden und als Nevis endlich zurückkommt, fällt mir ein Stein vom Herzen. Er zieht mich sofort in seine Arme und küsst meinen Scheitel.
»In einer Stunde können wir los«, flüstert er und ich klammere mich fester an ihn. »Bist du bereit?«
»Ja.« Von mir aus könnte es sofort losgehen.
»Maya?« Er schiebt mich sanft von sich, so dass ich ihn ansehen kann. »Als du Jesien gewählt hast, dachte ich, ich müsste sterben. So einen Schmerz habe ich noch nie zuvor gespürt. Ich war so ein Dummkopf, als ich glaubte, dass ich es überwinden würde, dich an einen meiner Brüder zu verlieren. Ich hätte es im ersten Moment wissen müssen, als ich dich gesehen habe.«
»Jetzt bin ich bei dir«, flüstere ich und kann mich gar nicht an seinem schönen blassen Gesicht sattsehen.
»Was ist diese Macht in mir?«, haucht er, meinen Lippen ganz nah, während seine Augen tief in meine sehen. Ich kann jede ihrer Bewegungen sehen und die feinen Fäden, die sich durch seine hellblaue Iris ziehen. Seine Pupillen weiten sich ein Kleinwenig. »Ich habe das Gefühl, ohne dich nicht mehr atmen zu können. Wieso Maya? Wir kennen uns doch kaum.«
»Es ist eine Art Anziehungskraft«, sage ich. »Ich
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