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Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Titel: Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Wolf
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sind wir? Im Grenzland?«
    »Nein, ganz sicher nicht.« Die Mutlosigkeit in Nevis‘ Stimme klemmt mir die Luft ab. Er erhebt sich und sieht sich um. »Das hier ist jedenfalls ein riesiger See.«
    Ich sehe hinunter zu meinen Füßen. Das Wasser ist so dick zugefroren, dass unter der Eisschicht nichts zu erkennen ist. Allerdings gilt das nicht nur für den See. Ein Blick in Nevis‘ Augen zeigt mir, dass auch er eine Wand aus Frost hochgezogen hat.
    »Sehen wir zu, dass wir hier herunterkommen«, sagt er und marschiert einfach los. »Wenn wir in eine der alten Städte gelangen, werde ich vielleicht wissen, wo wir sind. Immerhin habe ich hier jeden Millimeter schon mehrmals eingefroren.«
    Ich folge ihm, ohne etwas zu sagen, mit den Gedanken immer noch bei Iria. Es ist meine Schuld. Iria starb meinetwegen und Nevis weiß es. Ohne mich hätten wir uns nie auf den Weg hierher gemacht. Traurig schliddere ich hinter Nevis über den See. Mehrmals gerate ich ins Wanken, doch Nevis bleibt nicht stehen, um mir zu helfen oder mich an die Hand zu nehmen. Er ist in seinen eigenen Gedanken versunken. Die Tränen fließen still in meinen Schal, den ich mir ganz fest bis über die Nase gezogen habe.
    »Schau, da!«, ruft Nevis vor mir und ich erhebe meinen Blick. Vor uns liegt ein Stück Land. Ich erkenne es daran, dass es nicht glatt und eben ist, wie der gefrorene See unter meinen Füßen. Nevis betritt es als Erster und als ich ihm folge, sehe ich die vielen kleinen Inseln vor uns. Hinter ihnen liegt ein größeres Stück Land und ganz in der Ferne meine ich eine Art Gebäude zu erkennen … oder nein, da ragt nur etwas empor, aber was?
    »Ich weiß, wo wir sind«, sagt Nevis und seine Stimme gibt keinen Aufschluss darüber, was er von unserem Standort hält. »Wir sind auf dem Vänern und das hier ist … oder war viel mehr einmal die Insel Torsö.«
    »Ist es weit in die sichere Zone?«, bringe ich heraus und versuche meiner Stimme einen festen Halt zu geben, doch es gelingt mir nicht wirklich.
    »Es ist zumindest nicht unmöglich, von hier aus dorthin zu kommen. Das Grenzgebiet dürften wir in etwa vier bis fünf Tagesmärschen erreichen. Die sichere Zone in sechs.« Der Winter seufzt. »Wusstest du, dass man deine Heimat früher Schweden nannte?«
    Ich nicke.
    »Zumindest sind wir im richtigen Land.« Damit geht der Winter weiter und auch ich überrede meine Beine einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Arme fest vor meiner Brust verschlungen laufe ich hinter Nevis her und versuche mich darauf zu konzentrieren, nicht auszurutschen oder zu stolpern. Nevis schlägt eine leicht andere Richtung ein und wir entfernen uns wieder von dem Stückchen Land. Nach ein paar Metern sehe ich mich noch einmal um und erkenne, dass das, was ich eben für ein Gebäude gehalten hatte, eine alte Straße ist, die wohl einst auf Betonpfählen über den See zur Insel geführt hat. Nun stehen davon aber nur noch Bruchstücke.
    »Wir sollten sehen, dass wir schleunigst von dem See herunterkommen«, meint Nevis und ändert noch einmal leicht seine Richtung. »Hier können wir uns nirgendwo verstecken.«
    Bei dem Gedanken an den Wächter wird mir ganz mulmig und ich spüre wieder die Galle in meinem Hals brennen. Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch herunterkämpfen kann. Die klirrende Kälte hilft mir jedoch dabei, denn ich habe das Gefühl, dass jeder Muskel in meinem Körper mit Zittern beschäftigt ist. Da bleibt keine Zeit, um sich zu übergeben. Nevis bleibt plötzlich stehen und auch ich stoppe. Will er schon wieder die Richtung ändern? Weiß er wirklich, wo wir sind? Oder ist er einfach nur verwirrt?
    »Was ist?«, frage ich leise. »Hast du was gesehen?«
    Statt zu antworten, fällt Nevis plötzlich auf die Knie und schreit so schmerzerfüllt, dass ein Stoß Adrenalin mir die Kraft gibt, zu ihm zu eilen. Halb rutschend, halb laufend schließe ich auf und lasse mich neben ihn fallen.
    »Nevis?«, frage ich nervös. Er sieht auf und seine Augen stehen voller Tränen. Ich reiße meinen Schal herunter und dann seinen, um meine Lippen auf seine zu pressen. Mit meinen Händen umfasse ich seinen Kopf, als ich mich von ihm löse.
    »Es tut mir so leid«, wimmere ich. »Sie starb wegen mir.«
    »Sag das nicht«, antwortet er mit bebender Stimme. »Sie starb für mich, Maya. Damit ich eine Chance habe, endlich zu leben.« Er nimmt meine Hände in seine und drückt einen Kuss auf meine Handschuhe. »Mit dir.«
    Ich weine eine Weile mit ihm

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