Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
ist mein ganzes Leben merkwürdig.
»Im Grunde kennen wir uns kaum und doch habe ich das Gefühl, dass du zu mir gehörst. Wie mein Herz, mein Kopf, meine Arme und Beine. Wie die Kälte und die Wärme in mir, … wie meine Seele.«
Ich bin vollkommen sprachlos und starre ihn nur an.
»Ich frage mich ob das …«
»Das was?«, stammele ich, weil er nicht weiterspricht. Nevis schüttelt den Kopf und erhebt sich wieder.
»Nichts«, murmelt er und reicht mir seine Hand. »Weiter?«
»Weiter«, antworte ich und aus irgendeinem Grund schlägt mein Herz wie verrückt. Nevis hakt mich bei sich unter und gemeinsam gehen wir weiter durch diese tote, weiß verschleierte Welt.
»Wenn es nur nicht so kalt wäre«, sagt Nevis durch seinen Gesichtsschutz.
»Dann was?«, frage ich.
»Dann könnte ich ewig so mit dir weiterlaufen.«
Ich sehe ihn ungläubig an, aber ich fürchte durch meine Vermummung kann er das nicht deuten.
»Noch nie im Leben habe ich etwas so sehr vermisst wie dich. Die letzten Monate waren länger als mein ganzes Leben.« Nevis bleibt abrupt stehen. »Ich hätte es vom ersten Moment an wissen müssen, Maya.«
»Schon gut«, versuche ich ihn ein wenig zu beruhigen, denn seine Augen wirken aufgeregt.
»Dein Anblick hat mich total aufgewühlt und Dinge mit mir gemacht, die ich bis heute nicht verstehe. Und es wurde mit jedem Mal schlimmer. Ich habe versucht dich nicht anzusehen, aber es gelang mir nicht immer. Nachts habe ich wachgelegen, mit dir vor meinen Augen, aber es war nie genug. Keine Vorstellung, nicht mal der schönste Traum von dir, hätte gereicht, um meine Gedanken zu beruhigen. Der Wunsch nach mehr brannte fast schon schmerzhaft in mir. Das hat mir Angst gemacht.«
»Du hast mir manchmal Angst gemacht«, gestehe ich.
»Das tut mir so unendlich leid.« Nevis legt seine behandschuhte Hand zärtlich auf mein verdecktes Gesicht. »Ich war so ein Narr.«
Ein unmenschliches Kreischen in der Ferne reißt uns aus unseren Gedanken und auseinander.
»Es wird unsere Fußspuren im Schnee gefunden haben.« Nevis sieht sich hastig um und auch ich suche die Gegend nach einer Möglichkeit zum Verstecken ab. Als ich nichts finde und an die Fußspuren unter unseren Füßen denke, nimmt die Panik in mir Überhand. Nevis packt mich am Arm. Gemeinsam laufen wir los. Es ist unglaublich, wie viel Kraft einem das Adrenalin in die Muskeln pumpt, wenn es um das Leben geht. Nicht mal die dicke Kleidung oder der schwere Rucksack können mich davon abhalten. Nevis schlägt plötzlich eine andere Richtung ein. Ich frage nicht, sondern laufe still neben ihm her. Ein erneutes Kreischen ertönt und es klingt immer noch weit weg, aber in jedem Fall doch zu nah.
»Da!«, zischt Nevis und ich folge seiner Hand mit meinem Blick. Vor uns kommt erneut ein zugefrorener See in Sicht. Ich verstehe und nicke ihm zu. Dort hinterlassen wir keine Fußspuren. Andererseits können wir uns dort aber auch nirgendwo verstecken. Schlitternd kommen wir auf dem See an und Nevis führt mich quer darüber. Auf der anderen Seite des Ufers bleibt er plötzlich stehen.
»Leg dich hin!«, befiehlt er mir leise. »Ich schaufele Schnee über dich.«
Ängstlich sehe ich ihn an.
»Vertraue mir, Maya.«
Ich mache, was er gesagt hat und lasse mich von ihm mit Schnee bedecken. Für mich dauert das alles viel zu lange und ich frage mich, was er vorhat? Will er sich auch eingraben? Wird der Wächter die Spuren davon nicht sehen? Es bleibt mir nichts anderes übrig, als still zu liegen und ihm zu vertrauen. Als dann wenige Minuten später ein spitzer Schrei in unserer Nähe ertönt, wage ich nicht mal mehr zu atmen. Mein Kopf spielt mir immer wieder Irias Tod vor und bringt mein Herz fast zum Zerspringen. Ein merkwürdiges Keuchen erklingt in meiner unmittelbaren Nähe. Instinktiv weiß ich, dass das Wesen neben mir steht. Als dann ein leichtes Gewicht über mich gleitet, schreie ich fast vor Angst auf. Es ist direkt über mir. Tränen laufen aus meinen Augen und ein dicker Kloß steckt in meiner Kehle fest. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel Angst gehabt. Das Wesen muss nur wenige Sekunden auf mir gestanden haben, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, als es endlich von mir heruntergeht. Danach herrscht nur noch Stille für eine lange Zeit. Es ist Nevis, der mich aus meinem eisigen Grab befreit. Weinend falle ich in seine Arme. Er ist wie ich noch überall mit Schnee bedeckt.
»Es ist über mich drüber gelaufen«, schluchze ich,
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