Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
woraufhin er mich noch fester drückt. »Lass mich nie wieder alleine.«
»Nie wieder«, verspricht er und ich glaube ihm.
Als die Sonne am Horizont zu verschwinden droht, suchen wir Schutz unter einem alten Wellblechdach, welches durch den Frost erstaunlich gut erhalten geblieben ist. Nevis bittet mich trotzdem davon fernzubleiben, weil es wohl aus giftigen Materialien besteht.
»Keine Sorge, die Nacht über hält mein Frost noch«, beruhigt er mich.
»Ich meine zu spüren, dass es wärmer wird«, sage ich. »Es ist zwar nur ein wenig, aber es wird wärmer.«
»Ja«, antwortet Nevis nachdenklich und kuschelt sich ganz eng neben mich in seinem Schlafsack. Ich kann nicht aufhören an unsere Fußspuren zu denken, die den Wächter zu uns führen könnten. Zum Glück hat es vorhin zu schneien begonnen und jedes Zeugnis davon, dass wir hier sind, wird langsam verdeckt.
»Geht es?«, fragt Nevis besorgt. Sicher sprechen meine Augen Bände.
»Ich kann es nicht erwarten, das Grenzland zu erreichen«, antworte ich flüsternd.
»Ich auch.« Nevis stutzt. »Was werden die anderen Frauen im Orden sagen, wenn du dort mit mir auftauchst?«
»Uff, keine Ahnung«, gebe ich ehrlich zu. »Du bist Gaias Sohn, sie werden dir sicherlich mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Verwirrung entgegentreten.«
»Eben, ich bin der Sohn ihrer geliebten Göttin. Der, der ebendiese betrogen und hintergangen hat und mit der Auserwählten geflohen ist, um hinter menschlichen Mauern Schutz zu suchen.«
»Hast du Angst, dass sie uns diesen nicht gewähren?«, rate ich und Nevis nickt. Seine Sorge ist nicht unberechtigt. Die Frauen in meinem Orden sind Gaia alle treu ergeben, sie widmen der Göttin ihr ganzes Leben.
»Und Gaia kann uns im Orden nichts anhaben?«, frage ich weiter, ehe mir Nevis eine Antwort auf die erste Frage geben kann.
»Ja zu beidem«, sagt er schließlich. »Ich habe Angst, dass sie uns den Schutz verwehren, wenn sie merken, dass Mutter wütend, aber machtlos ist.«
»Meine Mutter müsste im Rang aufgestiegen sein«, denke ich laut nach. »Sie wird uns nicht Gaia ausliefern.«
»Dann hoffe ich, dass sie für uns eintritt«, seufzt Nevis.
»Das wird sie«, versichere ich ihm aus ganzem Herzen. »Sie hätte es zwar nie öffentlich zugegeben, aber ich glaube, sie war schon von vorneherein mit der ganzen Wahl nicht zufrieden. Sie wollte mich nicht an Gaia verlieren.«
»Das klingt gut«, höre ich Nevis in seinen Schlafsack murmeln. Außerhalb unseres kleinen, mehr oder weniger selbst zusammengebauten Schutzes beginnt ein Schneesturm, sein Unwesen zu treiben und ich heiße ihn herzlich Willkommen.
»Wer macht jetzt eigentlich den Schneesturm, wo du doch nicht da bist?«
»Das ist alles noch mein Werk. Ich habe das Wetter sozusagen vorprogrammiert. Dieser Schneesturm zieht noch gut zwei Tage über das ehemalige Europa.«
»Stimmt es eigentlich, dass sich die Kontinente der Erde während Gaias Rettung vor tausend Jahren verschoben haben?«, frage ich neugierig.
»Ja, Nordamerika ist Asien sehr nahe gerückt. Es ist noch Meer dazwischen, aber das könnte man mit guter Kondition durchschwimmen. Australien ist gegen Afrika geprallt, Südamerika ist dem Beispiel gefolgt. Da war aber schon fast kein Leben mehr auf dem Planeten. Es musste sein, denn so ist es einfacher, das Land gefroren zu halten.«
Ich schlucke, weil ich mir das alles vorzustellen versuche. In den Aufzeichnungen des Ordens existieren nur die alten Weltkarten. Niemand weiß genau, wie es heute aussieht, da die Erde bis auf unsere kleine Zone kaum bewohnbar ist. Was sich aber in unseren Büchern finden lässt, sind Berichte von schrecklichen Erdbeben und Überschwemmungen in den frühen Jahren der neuen Zeit.
Ich sehe zu Nevis und bemerke, dass er eingeschlafen ist. Wie gerne würde ich mich jetzt in seine Arme kuscheln, aber die Kälte hält mich in meinem Schlafsack gefangen und so bleibt mir nur zu hoffen, dass sich das im Orden ändern wird. Mein Körper schreit förmlich nach seiner Nähe und Wärme, aber ich schließe tapfer die Augen und versuche an nichts zu denken. Doch ein Kreischen in sehr weiter Ferne hält mich für den Rest der Nacht wach.
Zwei Tage später bin ich so müde und erschöpft, dass meine Augen mir ständig Streiche spielen. Immer wieder verschwimmt alles, ich meine Schatten zu sehen, wo keine sind und mir fallen sogar beim Laufen die Augen zu. Aber auch Nevis ist am Ende seiner für ihn so begrenzten menschlichen Kräfte,
Weitere Kostenlose Bücher