Morituri - Die Todgeweihten
wenigen Augenblicken einen riesigen Haufen Ausdrucke hereinkarrte. Die Ausdrucke waren Kopien des Berichts, den Lagguth vor nicht allzu langer Zeit vor dem Kabinett abgeliefert hatte; derjenige, in dem er behauptete, das AM 2 könne innerhalb von dreizehn Monaten gefunden werden.
Kyes wanderte im Zimmer auf und ab, während Lagguth auf den Bericht starrte und sich seiner mannigfaltigen Sünden bewusst wurde.
»Vielleicht möchten Sie ja ihre Rückschlüsse aus diesem Bericht noch einmal abändern?« fragte Kyes schließlich.
Lagguth schwieg.
»Ich habe eine Gruppe von meinen Leuten daran gesetzt. Sie fanden ihn … interessant«, fügte Kyes hinzu.
Lagguths Mund klappte auf. Er wollte etwas sagen, klappte ihn dann doch wieder zu. Was gab es dazu noch zu sagen? Jede Seite des Berichts war pure Erfindung. Er hätte ebenso gut zwei Monate sagen können, oder sechs Monate – oder nie.
»Sollen wir es nicht auf meine Art versuchen?« säuselte Kyes.
Die Logik ließ sich nicht von der Hand weisen. Sr. Lagguth war überzeugt.
Die alte Frau bot einen herrlichen Anblick. Ihr graues Haar fiel ihr bis auf die Hüfte hinab. Es glänzte vor Gesundheit. Ihr hohes Kichern bezauberte Kyes, besonders dann, wenn sie es bei seinen flauesten Witzen ausstieß. Selbst dann lag keine Falschheit darin. Trotz ihres Alters, das die Investigatoren auf 155 schätzten, waren ihr Körper und ihre Figur noch sehr gut in Schuss; sie füllte ihre orangefarbenen Gewänder auf recht ansehnliche Weise aus. Soweit Kyes sich in dieser Hinsicht auskannte, so hätte er, wäre er ein Mensch gewesen, diese Frau noch immer attraktiv gefunden. Ihr Name war Zoran. Sie war die gewählte Anführerin des Kults des Ewigen Imperators, insofern diese Bewegung überhaupt einen richtigen Anführer hatte.
Zoran und ihre Gruppe waren von Kyes’ Investigatoren schon eine ganze Weile beschattet worden. Es war ein seltsamer Haufen. Die meisten von ihnen führten ganz gewöhnliche Leben mit ganz gewöhnlichen Berufen. An ihrem Arbeitsplatz kleideten und benahmen sie sich meistens wie alle anderen auch. Der einzige große Unterschied lag in ihrer Haltung. Es waren rundum freundliche und gutgelaunte Wesen. Kein Rückschlag und keine Enttäuschung schienen sie aus der Bahn zu werfen. Kyes’ Oberdetektiv schwor, dass sie auch bei der Verkündung des sofortigen Endes der Erstwelt fröhlich lachen und ihren Pflichten nachgehen würden. Wahrscheinlich würden sie eine »Letzte Chance für das Wort« hinzufügen, ihre Roben anlegen, die Schuhe abstreifen und durch die Straßen ziehen, um ihren Glauben zu verkünden.
Zoran klärte unter permanentem Kichern einige falsche Annahmen, die sich Kyes über ihre Denkungsart gemacht hatte.
»Nein, ganz gewiss halten wir den Ewigen Imperator nicht für einen Gott.« Kichern. »Jedenfalls nicht für einen Gott perse.« Mehr Kichern. »Er ist eher so etwas wie ein Gesandter, müssen Sie wissen, ein Repräsentant der Heiligen Sphären.« Noch mehr Kichern.
Kyes wollte wissen, wie er sich eine Heilige Sphäre vorzustellen hatte.
»Sehr gute Frage«, sagte sie. »Sie sind, tja, rund, glaube ich. (Kichern.) Und heilig. (Dreißig Sekunden ununterbrochenes Kichern.) Eigentlich ist das nur ein Konzept. Eins, das man akzeptieren kann oder auch nicht. Wenn man es akzeptiert, dann sieht man es auch. Im Geiste. Wenn man es jedoch nicht akzeptiert (sehr starkes Kichern) … dann, tja, dann sieht man natürlich überhaupt nichts.«
Jetzt musste auch Kyes lachen – sein erstes richtiges Lachen seit ewigen Zeiten. »Vermutlich bin ich einer der Blinden«, sagte er.
»Aber nein. Überhaupt nicht. Jedenfalls nicht völlig blind«, widersprach ihm Zoran. »Sonst würde ich mich nicht einmal mit Ihnen unterhalten.«
Kyes dachte verwirrt über diese Bemerkung nach. Wie konnte sie so sicher sein? Seine Motive waren alles andere als rein. In einem verrückten Augenblick – dieses Kichern konnte einem nach einer gewissen Zeit ziemlich auf den Nerv gehen hätte er das beinahe gebeichtet. Aber er tat es nicht.
»Sicherlich gibt es bestimmt den einen oder anderen, der behaupten würde, dass Sie uns bloß ausnutzen wollen«, sagte die alte Frau. Als das Kichern diesmal ertönte, schreckte Kyes förmlich auf. »Aber wie wollen Sie das tun? Alles, was ich besitze, ist diese ärmliche Hülle.« Sie strich mit einer dramatischen Geste über das Gewand, unter dem sich ihr Körper abzeichnete. »Und diese Hülle ist erfüllt von der Freude der
Weitere Kostenlose Bücher