Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
aber sein Vater starrte wie hypnotisiert darauf. Dann ertönte ein dumpfes Geräusch, das York nicht einordnen konnte. Plötzlich gab sein Vater ein leises Röcheln von sich. Das Gesicht lief violett an, Schaum trat vor seinen Mund und er kippte wie ein gefällter Baum einfach zur Seite.
York hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen, konnte sich aber im letzten Moment noch beherrschen. Ihm war schlecht und er merkte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Norwin war jetzt aufgestanden und untersuchte den leblosen Körper seines Vaters, der halb ausgestreckt auf dem Sofa lag.
»Schade«, sagte er schließlich und drückte dem toten Richter die weit aufgerissenen Augen zu. Einen Moment blieb er wie in stiller Andacht stehen, dann eilte er zur Tür der Bibliothek und riss sie auf.
»Er ist tot«, sagte er.
»Können wir den Hausarzt rufen?«, fragte Egmont. »Warum?«, fragte Norwin.
»Wegen des Totenscheins. Wenn er von einem Arzt des Ministeriums ausgefüllt wird, könnte vielleicht ein unliebsamer Verdacht auf Sie fallen.«
Norwin schien einen Moment nachzudenken. »Ja, tun Sie das. Jeder normale Mediziner wird einen Herzanfall als Todesursache attestieren. Wo ist der Junge?«
Bei dieser Frage zuckte York zusammen, der wie erstarrt die grauenhafte Szene verfolgt hatte.
»Vermutlich in seinem Zimmer.«
»Suchen Sie ihn. Er sollte zuerst vom Tod seines Vaters erfahren. Ich werde mich hinunter in die Halle begeben, um den Arzt in Empfang zu nehmen. Sobald ich gegangen bin, werden Sie alle notwendigen Dinge in die Hand nehmen.«
»Das werde ich. Sie können sich auf mich verlassen.«
»Ja, Egmont. Das weiß ich.«
Die beiden Männer verließen die Bibliothek und schlossen die Tür hinter sich. York drückte sich in seinem Versteck an die Wand und schlug die Hand vor den Mund. Er kämpfte mit den Tränen. Wut, Hass und Trauer stiegen in ihm auf, aber er musste seine Gefühle bezwingen, wollte er nicht wie sein Vater enden, das spürte er. Noch immer verstand er nicht, was soeben vorgefallen war. Bis zu dem Punkt, an dem der Richter dem Minister die Kündigung vor die Füße geworfen hatte, hatte sein Vater die Situation unter Kontrolle gehabt. Doch dann hatte Norwin diese Kiste geöffnet. Was zum Teufel hatte sich darin befunden? Was konnte so tödlich sein, dass allein schon der Blick darauf einen Menschen umbringen konnte? Doch so sehr ihn die Frage auch beschäftigte, es gab ein drängenderes Problem.
York war von Feinden, Verrätern und Mördern umgeben. Wenn es Norwin und seinen Helfern schon gelungen war, den Vater zu töten, was würden sie dann erst mit ihm anstellen? Sie durften unter keinen Umständen erfahren, dass er Zeuge des Mordes geworden war. Er suchte die Innenseite der Holzvertäfelung ab und fand den Riegel der Geheimtür. Er drückte ihn nach unten. Ohne ein Geräusch schwang das Regal auf.
Der Anblick des Vaters brach York fast das Herz. Am liebsten wäre er zu ihm gegangen, um ihm den herunterbaumelnden Arm neben den Körper auf das Sofa zu legen, aber York musste von hier verschwinden, sonst würde man im ganzen Haus nach ihm suchen. Wenn Norwin merkte, dass er nicht in seinem Zimmer war, würde in ihm der Verdacht aufkommen, dass York etwas gesehen haben könnte. Das durfte nicht geschehen.
Mit schnellen Schritten eilte er zur Tür und spähte hinaus in den Korridor. Niemand war zu sehen, aber die aufgeregten Stimmen der Bediensteten drangen jetzt zu ihm nach oben.
Um zu seinem Zimmer zu gelangen, musste er unbemerkt den unteren Stock des anderen Flügels erreichen. York duckte sich und huschte die Balustrade entlang zum gegenüberliegenden Korridor.
Er hatte es fast geschafft, als er hörte, wie jemand die Treppe zu ihm hinaufkam. Den schleppenden Schritten nach zu urteilen, konnte es nur Egmont sein. Kalter Hass stieg in York auf und schnürte seine Kehle zu. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um den Verräter mit bloßen Händen zu erwürgen,doch er entschied sich anders. Mit einem Satz sprang er zur Tür des Ankleidezimmers und riss sie auf.
»York? Bist du das?«, rief Egmont und dann, mit unverhohlenem Misstrauen: »Was tust du hier oben?«
York wusste, dass er in der Falle saß. Das Ankleidezimmer war nichts anderes als ein großer, begehbarer Schrank, in dem Mäntel, Anzüge und Hosen hingen. Als kleines Kind hatte er sich immer hier versteckt, wenn er mit dem Kindermädchen gespielt hatte, doch Egmont würde sich bestimmt nicht täuschen lassen.
York spürte, wie
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