Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
sein Mund auf einmal trocken wurde. Noch nie in seinem Leben hatte er um sein Leben fürchten müssen. Er tastete in der Dunkelheit nach einem hölzernen Kleiderbügel in der irrsinnigen Hoffnung, ihn als Waffe einsetzen zu können.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er keuchend in die Schwärze. Eine kurze Welle der Übelkeit stieg in ihm hoch, doch der Anflug von Schwäche war sofort wieder verflogen. Dafür hatte sich plötzlich der Geruch der ihn umgebenden Luft verändert. Er war auf eine angenehme Art vertraut. York streckte die Hand aus, aber anstatt einen der schweren Mäntel seines Vaters zu berühren, hatte er auf einmal den Ärmel seiner eigenen Regenjacke in der Hand. York schob sie beiseite und bekam nun den Samtanzug zu fassen, den er immer an Feiertagen tragen musste. York stieß einen gedämpften Schrei aus, als er die Türen seines Kleiderschranks aufstieß und auf sein gemachtes Bett schaute.
Wie zum Teufel war er hierhergekommen? Eben hatte er sich doch noch im oberen Stockwerk befunden. Wie hatte erim Bruchteil einer Sekunde das ganze Haus durchqueren können? Schwindel ergriff ihn und er stolperte aus dem Schrank. Im letzten Moment konnte er sich noch am Bettpfosten festhalten und sich auf die Matratze ziehen.
»York!«, hörte er Egmont rufen. »Wo bist du?«
»Ich bin in meinem Zimmer!«
Die Tür wurde aufgerissen und der habichtartige Kopf des Privatsekretärs erschien im Türrahmen. »Bist du die ganze Zeit hier gewesen?«
»Ja«, antwortete York. »Ich muss wohl auf meinem Bett eingeschlafen sein.«
Das Misstrauen schwand aus Egmonts Gesicht und verzog sich zu einer Maske grenzenlosen Mitleids. »Mein lieber York. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Dein Vater ...« Egmont stockte und zog das Einstecktuch aus seiner Brusttasche, um sich die Nase abzuwischen. »Dein Vater ist soeben gestorben.«
York sagte nichts, sondern starrte den Mann an, den er all die Jahre als engsten Vertrauten seines Vaters gekannt hatte. Egmont war beinahe so etwas wie ein Familienmitglied gewesen und jetzt hatte der Sekretär seinen Freund und väterlichen Mentor verraten.
»Es muss schrecklich für dich sein, ich sehe es an deinem Gesicht«, jammerte Egmont.
»Wie ... wie ist es geschehen?«
»Vermutlich war es das Herz. Mehr werden wir erst wissen, wenn Dr. Berklund den Toten ... die Leiche ... ich meine, den Körper deines Vaters untersucht hat.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Ich war es. Dein Vater hatte einen Termin mit Minister Norwin, und als ich den Besuch anmelden wollte, lag er da. Ausgestreckt auf dem Sofa.« Jetzt schluchzte Egmont, als ob ihm der Tod des Richters tatsächlich naheginge. In seiner unbeholfenen Art umarmte er York, der unter der Berührung zu Eis erstarrte.
»Wir werden dich nicht alleine lassen. Du weißt, dass du in mir immer einen verlässlichen Freund und Ratgeber haben wirst.«
Ein Schwall von Worten ging auf York nieder, aber er hörte nicht zu. Er wusste noch immer nicht, wie er von ganz oben hier herunter in sein Zimmer gekommen war. Irgendwie musste er auf eine ganz sonderliche Art gesprungen sein, auch wenn es nur dieses kurze Stück war. Doch nun wünschte er sich, er könnte weiter springen. Ganz weit. Bis ans Ende der Welt.
***
Hagen Lennart stand am schmutzigen Fenster seines Büros und starrte hinab auf den Parkplatz der Fahrbereitschaft des Innenministeriums, wo gerade Schichtwechsel war. Vor einigen Wochen hatten sie neue Einsatzfahrzeuge erhalten. Die alten, mit Dampf betriebenen Automobile wurden nach und nach gegen moderne Fahrzeuge mit Holzvergaser ausgetauscht. Lennart hatte die alten Dampfwagen immer gemocht. Sie waren robust und zuverlässig gewesen, obwohl sie es natürlich in Sachen Geschwindigkeit und Komfort nicht mit den neuen Coswig-Modellen aufnehmen konnten.
Er seufzte. Die Zeiten änderten sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und es fiel ihm langsam schwer, diesem Tempo zu folgen. Er war erst dreiundvierzig, aber er fühlte sich alt und ausgebrannt. Die dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare gingen ihm langsam aus und zum Lesen brauchte er neuerdings eine Brille. Früher hätte er auf dem Schießstand einer Fliege jedes Bein einzeln abgeschossen, doch nun konnte er mit unbewaffnetem Auge noch nicht einmal das Kleingedruckte auf den Flaschen der Medikamente lesen, die er jeden Morgen gegen seinen Bluthochdruck nehmen musste.
Es war jetzt schon etliche Jahre her, dass er zur Wirtschaftsabteilung des
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