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Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Körperhaltung entspannt und das Mienenspiel glaubwürdig. Und trotzdem sagte der Mann nicht die Wahrheit.
    »Dieses Mittel, das Sie Nadja injiziert haben, dieses ...« »Virostatikum.«
    »Ja, dieses Virostatikum. Wie funktioniert es?«
    Zum ersten Mal sah Hakon so etwas wie Irritation in den Augen des Arztes aufblitzen. »Das wäre zu kompliziert, umes dir zu erklären. Ich habe viele Jahre an der Universität verbracht, um seine Wirkungsweise zu verstehen. Aber wenn es dich tatsächlich interessiert: Es ist ein hochmodifizierter nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Inhibitor eines Zytomegalie-Virus.«
    Diesmal sagte Mersbeck die Wahrheit. Dennoch störte Hakon etwas an dieser Antwort, obwohl er nicht genau sagen konnte, was. Der komplizierte Name des Medikaments war es jedenfalls nicht.
    Seine Mutter öffnete ein kleines Kästchen und überreichte Mersbeck ein Kuvert. »Ihre Freikarte.«
    »Besten Dank, ich freue mich schon auf die Vorstellung. Ich bin sicher, dass ein gelungener Abend auf mich wartet.«
    Er packte seine Tasche wieder zusammen und verabschiedete sich mit einem höflichen Nicken. Hakon schaute ihm nach. Irgendetwas stimmte mit dem Mann nicht, das sagte ihm sein Bauchgefühl. Und auf das hatte er sich bis jetzt immer verlassen können.
     
    Die Vorstellung an diesem Abend war ausverkauft. Boleslav hatte sogar noch einige Bänke aufstellen müssen, damit auch alle zahlenden Gäste einen Sitzplatz bekamen. In der Manier eines weltläufigen Mannes führte er durch das Programm, das ausgesprochen familienfreundlich war. Traten sie in entlegenen Bergbaustädten auf, mussten sie dem Publikum eine etwas derbere Kost bieten, die aus einer anzüglichen Tingeltangelnummer und anderen Verlustierungen bestand. Es war angenehm, nach langer Zeit wieder anspruchsvolle akrobatische Kunststücke aufführen zu können.
    Und Boleslav Tarkovski bot alles, was das vergnügungssüchtige Herz begehrte: halsbrecherische Trapezakte und Jongliernummern; auf eine atemberaubende Leiterakrobatik folgte Vera Tarkovskis Darbietung als Schlangenfrau, die sich aus engsten Kisten befreien konnte. Doch das war nichts gegen Hakons Fähigkeiten.
    Boleslav Tarkovskis Sohn war ein begnadeter Eskamoteur. Mit wenigen Bewegungen gelang es ihm, sein Publikum so zu verwirren, dass sie nicht merkten, wie er Mäuse, Tauben, ja sogar kleine Hunde spurlos verschwinden lassen konnte. Natürlich setzte er technische Hilfsmittel ein, aber dem Publikum waren noch nie die Spiegel und doppelten Böden aufgefallen, die Hakon benutzte. Sein Vater hatte einmal gesagt, wenn der Zirkus pleiteginge, würden alleine Hakons Kunststücke ausreichen, die Familie zu ernähren. Doch die Manipulation von Gegenständen oder Kleintieren war nichts gegen den Höhepunkt seiner Nummer. Hakon konnte nämlich auch Gedanken lesen.
    Nun, natürlich nicht wirklich. Normalerweise funktionierte herkömmliche Zauberkunst nach dem Prinzip »Ich präsentiere dir einen Trick und du versuchst mich dabei zu erwischen«. Als Gedankenleser ging man anders vor. Es handelte sich um die Illusion echter Magie mithilfe des Publikums. Dabei war alles nur eine Frage der Ablenkung und geschickter Manipulation. Das galt vor allen Dingen für den Zetteltrick, den Hakon gerne zum Aufwärmen präsentierte. Er hielt dazu ein vorgefaltetes quadratisches Stück Papier wie beiläufig in der Hand.
    »Meine Damen und Herren, ich möchte heute Abendetwas ausprobieren, von dem ich allerdings nicht weiß, ob es wirklich funktioniert.« Er räusperte sich und lächelte. »Es ist ein Gedankenexperiment.«
    Hakon wandte sich an einen Mann in der ersten Reihe, einen Bauern mit schwieligen Händen, und faltete den Zettel auf, in dessen Mitte er vor den Augen des Publikums einen Kreis zeichnete. Dann gab er dem Mann das Papier und den Stift. Es wurde sehr still im Zelt.
    »Ich möchte Sie bitten, genau das zu tun, was ich Ihnen sage.«
    Der Mann nickte. Hakon entfernte sich von ihm. »Denken Sie zuerst an ein Wort. Es spielt keine Rolle, wie dieses Wort lautet. In Ordnung?«
    Der Mann nickte erneut.
    »Wenn Sie dieses Wort gedacht haben, schreiben Sie es bitte in den Kreis.«
    Der Bauer runzelte die Stirn, dann kritzelte er etwas auf den Zettel. Hakon konnte spüren, wie die Spannung wuchs. »Sagen Sie mir, wenn Sie fertig sind.«
    »Fertig«, sagte der Mann.
    »Dann möchte ich Sie bitten, den Zettel zu falten.« »Habe ich getan.«
    Köpfe reckten sich empor, um auch wirklich alles verfolgen zu können.

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