Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
Vom Netzwerk:
hinzugeben.
    Dann heulten die Sirenen auf, um die Arbeiter der Frühschicht in die Fabriken zu rufen. Lorick holte tief Luft und erwachte wie ein Riese aus seinem Schlaf. Mit einem Schlag hatte sich der Zauber der Morgendämmerung verflüchtigt.
    Tess trank einen letzten Schluck von der Milch, wickelte den Rest Brot in eine Zeitung, die jemand auf der Bank liegengelassen hatte, und stand auf. Sie brauchte etwas zum Anziehen und vielleicht wurde sie in einem der Gebrauchtwarenläden, die sie bei ihrem nächtlichen Streifzug durch Süderborg gesehen hatte, fündig.
    Tatsächlich hatte zu dieser frühen Stunde nur ein Geschäft geöffnet. Ein Glöckchen klingelte, als sie den Laden betrat, der mit allerlei Krempel vollgestellt war. Über einer Tür, die wohl in den privaten Teil des Ladens führte, hing der ausgestopfte Kopf eines Eisbären. Die Augen hatte man schief angebracht und das Maul zu einem absurden Grinsen verzogen. In einer anderen Ecke stapelte sich auf einem zerkratzten Schrank ein mehrteiliges, angestoßenes Service. Es war nur zur Hälfte ausgepackt und hatte bereits Staub angesetzt. In den Regalen waren paarweise Schuhe ausgestellt, alle schäbiger als das Paar, das Tess im Müll gefunden hatte. Jetzt tat es ihr leid, dass sie es nicht mitgenommen hatte. Hier hätte sie es bestimmt für gutes Geld verkaufen oder tauschen können.
    Eine alte Frau mit milchigen Augen saß hinter einer gläsernen Verkaufsvitrine, in der billiger Schmuck trübe glitzerte. Die Alte sah verstaubt und vertrocknet aus, als gehörte sie zum Inventar des Ladens.
    »Hallo, mein Kind. Was kann ich für dich tun?«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
    Vorsichtig machte Tess einen Schritt nach vorne. Dielen knarzten spröde unter ihren Füßen. Staub tanzte im Morgenlicht, das fahl durch die schmutzigen Scheiben fiel. »Ich brauche ein Kleid und ein Paar Schuhe.«
    »Wie groß bist du?«, fragte die alte Frau. »Du musst entschuldigen,wenn ich dich das frage, aber ich sehe leider nicht mehr allzu gut.«
    »Etwas mehr als fünf Fuß«, antwortete Tess.
    »Dein Gewicht?« Die Stimme klang wie das Rascheln von trockenem Laub.
    »Knapp unter neunzig Pfund.«
    »Ah«, machte die Frau nur. »Wie alt bist du? Vierzehn Jahre?«
    »Dreizehn«, verbesserte sie Tess. Sie hatte nicht das Gefühl, die Frau belügen zu müssen.
    »Dreizehn, und die Jungs liegen dir schon zu Füßen«, stellte die Alte kichernd fest. »Tritt näher.«
    Tess machte noch einen zweiten Schritt. Die alte Frau stand auf, wobei der Korbstuhl, auf dem sie saß, leise knirschte. Sie nahm einen Stock, den sie mit dem Griff an die Kante der Vitrine gehängt hatte, und schlurfte gebückt zu Tess herüber. Mit ihren knotigen Fingern befühlte sie vorsichtig die Brust und die Hüften.
    »Ah«, machte sie erneut sehnsuchtsvoll. »Es ist fast schon mehr als ein Leben her, als ich so jung und fest und schlank war wie du. Aber nun? Schau mich an!« Sie tippte sich an den Kopf. »Hier oben ist noch alles in Ordnung. Aber alles, was darunter ist, hat sich schon lange verabschiedet. Aus welchem Waisenhaus bist du abgehauen?«
    Die Frage kam so unvermittelt, dass Tess erschrocken zusammenfuhr. Die Alte kicherte. »Keine Angst, ich verrate dich nicht.«
    »Nummer 9«, sagte Tess kleinlaut.
    »Oh«, machte die Alte und verzog das Gesicht, als habe sieeinen schlechten Geschmack im Mund. »Das Schlimmste von allen. Erzählte man sich schon zu meiner Zeit. Und es ist bestimmt nicht besser geworden. Ich bin im Kommunalen Waisenhaus Nummer 2 hier in Süderborg groß geworden.« Sie kratzte sich an der Nase. »Ein Kleid möchtest du haben, soso. Hast du schon eine Bleibe?«
    Tess schüttelte den Kopf. Als ihr aber einfiel, dass die Alte ja nicht sehen konnte, sagte sie: »Nein.«
    »Also wirst du erst einmal auf der Straße leben, bis du etwas gefunden hast. Auch wenn es dir nicht behagt, du solltest Hosen tragen.«
    Hosen? Jungenkleidung? Das war ungeheuerlich! Sogar Tess wusste, dass Frauen das Tragen von Männerkleidung per Gesetz verboten war. Aber bevor sie ihren Einwand vorbringen konnte, hatte sich die Alte schon umgedreht und aus einem Schrank ein graugrünes Bündel geholt.
    »Hier, die müssten passen. Sie sind aus Leinen, gute Qualität. Probier sie an. Und zier dich nicht, ich kann deinen Hintern ohnehin nicht sehen.«
    »Aber ... damit sehe ich nicht mehr aus wie ein Mädchen.«
    »Mein Täubchen, das ist ja der Sinn der Sache. Du glaubst gar nicht, wer alles Appetit auf so einen

Weitere Kostenlose Bücher