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Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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auf. Er hatte sich alles nur eingebildet, obwohl er noch immer den Schmerz in seinem verdrehten Knie spürte. Er setzte sich auf. Und hielt in der Bewegung inne.
    Etwas raschelte in seiner Jackentasche.
    Vorsichtig tastete er danach. Als er ahnte, was sich in ihr befand, war es auf einmal, als legte sich eine kalte Hand um sein Herz.
    Es war der Brief aus dem Schließfach.
     
    ***

Für Tess war es die längste Nacht ihres Lebens. Noch immer gelang es ihr nicht, die Ereignisse in der Eisernen Jungfrau aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, geschweige denn zu verstehen. Wie war es ihr gelungen, mit bloßen Händen einen zweihundertfünfzig Pfund schweren, durchtrainierten Mann zu Tode zu prügeln? Verdammt, sie war ein schwächliches dreizehnjähriges Mädchen, das weniger Fleisch auf den Rippen hatte als ein rachitisches Suppenhuhn! So hatte zumindest Egino sie vor allen genannt, als die anderen Kinder ihn damit aufgezogen hatten, er sei in sie verliebt. Was er natürlich weit von sich gewiesen hatte ...
    Dass das, was sie getan hatte, ganz und gar nicht normal war, hatte sie auch in den Augen Phineas Woosters gesehen, den die blanke Angst gepackt hatte; weniger vor der Vergeltung durch den Boxverein, für den dieser Kerkoff Schutzgelder eintrieb, als vor ihr, Tess.
    Ihr kam wieder die Flucht aus dem Waisenhaus in den Sinn. Auch dort war es ihr irgendwie gelungen, mehrere Wachen auszuschalten, die sich ihr in den Weg gestellt hatten. Jetzt aber, als sie durch die dunklen Gassen Süderborgs streifte, fühlte sie sich alles andere als stark. Sie hatte neugierig und ängstlich zugleich versucht, ihre Kräfte an einigenvollen Mülltonnen zu messen, die sich aber keinen Zoll bewegt hatten. Musste sie sich erst in einer Ausnahmesituation befinden, bevor ihre seltsamen Kräfte zum Vorschein kamen? Wie hatte Wooster sie genannt? Einen Eskatay? Ihr an seiner Stelle wären ganz andere Begriffe eingefallen. Missgeburt war einer, Mörderin ein anderer. Aber Eskatay? Er hatte dieses Wort mit einer derartigen Abscheu ausgesprochen, dass es nur etwas Schreckliches, Monströses bedeuten konnte.
    Tess fühlte sich wie ein überdrehtes Uhrwerk. Obwohl sie beinahe vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen und einen harten Tag hinter sich hatte, fühlte sie sich nicht müde oder gar erschöpft. Im Gegenteil, sie war so energiegeladen und hellwach wie noch nie in ihrem Leben, doch das lag mit Sicherheit an der Anspannung, die nur langsam wich.
    Mittlerweile hatte die Morgendämmerung ein zartes Rosa an den Himmel gezaubert. Es würde noch eine Zeit dauern, bis die Geschäfte öffneten, aber in einigen Bäckereien brannte schon Licht. Erst jetzt, als sie den Duft von frischem Gebäck roch, verspürte sie einen nagenden Hunger. Ihre letzte Mahlzeit war der Eintopf gewesen, den der Wirt ihr spendiert hatte.
    Tess zählte ihr Geld. Addierte sie zu dem Trinkgeld die Scheine, die ihr Wooster hingeworfen hatte, kam sie auf knapp sechzig Kronen. Nachdem sie ihr bisheriges Leben im Waisenhaus verbracht und noch nie Geld besessen hatte, hatte sie nicht die geringste Ahnung, ob dies viel oder wenig war. Sie würde einige Dinge brauchen. Ganz oben auf ihrer Einkaufsliste stand neue Kleidung, denn in ihrer Waisenhauskluftwürde sie nur schwer Arbeit finden, es sei denn, sie heuerte wieder als Bedienung in einer Kneipe an. Doch darauf hatte sie nach ihrem Erlebnis in der Eisernen Jungfrau nun wirklich keine Lust mehr. Dennoch musste sie essen und trinken. Als sie sah, wie einige Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht bei den Backstuben frisches Brot kauften, stellte sie sich ebenfalls an. Mit einem ofenwarmen Laib und einer Flasche Milch machte sie sich auf den Weg zur Uferpromenade, um sich dort auf einer Bank zu stärken.
    Es war eine magische Stunde, diese Zeit zwischen dem Anbruch der Morgendämmerung und dem Sonnenaufgang. Die Stadt, getaucht in ein zauberhaftes Licht, begann sich schläfrig zu rühren. Die ersten Luftschiffe zogen über den Himmel und noch war es so still, dass man am Boden das Brummen ihrer Motoren hören konnte. Möwen flogen kreischend über die Midnar, um den Fischkuttern zu folgen, die im Dämmerlicht des heranbrechenden Tages flussab zur Mündung tuckerten, um spätabends bei den Fischhallen anzulanden, wo der Tagesfang dann verarbeitet und verkauft wurde. Obwohl Lorick ein gutes Stück landeinwärts lag, konnte man den Geruch des Meeres noch ahnen und Tess schloss die Augen, um sich der Illusion von Freiheit und Weite

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