Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
nicht ihr richtiger Name war.«
Hakon lächelte verträumt, als Veras Erinnerungen an Irina Koroljowa nun auch seine Erinnerungen wurden. Er glaubte, sie sogar riechen und spüren zu können. Diese Erfahrungwar so überwältigend, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Aber wo kam sie her?«, wollte Nadja nun wissen. Ihr ging die Geschichte zu Herzen, das spürte Hakon, ohne dass er dafür ihre Gedanken lesen musste.
»Sie kam aus Morvangar«, sagte Boleslav. »Da haben wir sie zumindest aufgegabelt, obwohl ich mir sicher bin, dass sie dort nicht geboren wurde. Irina war damals vollkommen erschöpft und ausgehungert, als wäre sie auf einer langen Reise gewesen. Sie war so, wie soll ich sagen, zerbrechlich?« Er verzog nachdenklich das Gesicht. »Nein, das trifft es nicht richtig. Sie hatte etwas ...«
»Sie hatte etwas von einem Engel«, vollendete Hakon.
»Ja, von einem Engel, der aber aus dem Paradies vertrieben worden war und nun unter uns Sterblichen sein Heil suchte. Uns hatte Irina erzählt, sie wollte nach Süden zum Ladinischen Meer, weil sie die langen kalten und dunklen Winter Morvangars nicht mehr ertrug.«
Nein, es war keine Reise, dachte Hakon, als er das Bild dieses verfrorenen, halb verhungerten Mädchens vor Augen hatte, so erschöpft und hungrig, dass es kaum noch richtig stehen konnte. Seine Mutter war auf der Flucht gewesen.
»Nun, sie fragte, ob wir sie nicht ein Stück mitnehmen könnten. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass sie schwanger war. Wir waren ... Nein, ich war zunächst überhaupt nicht davon begeistert, eine Ausreißerin mitzunehmen. Eure Mutter aber hatte schon immer ein weiches Herz gehabt, also war Irina von diesem Tag an Teil unserer kleinen Familie.«
»Und es war eine weise Entscheidung, mein Lieber«, sagte Vera und tätschelte den Arm ihres Mannes.
»Ja, das war es in der Tat«, sagte er fast schon ein wenig wehmütig.
»Ihr hattet seine Mutter nur unter der Bedingung mitgenommen, dass sie auch arbeitet«, stellte Nadja trocken fest.
»Etwas anderes konnten wir uns auch gar nicht leisten«, sagte Boleslav und machte sich noch eine Flasche Bier auf. Er schien froh, dass er diese Geschichte endlich loswerden konnte. Er trank einen Schluck und seufzte tief.
»Nach einer Woche lud sie euch dann zu einer Privatvorstellung ein«, sagte Hakon. »Irgendwie hatte sie heimlich an einer eigenen Nummer gearbeitet.«
»Damals ließ sie aber noch nicht ein ganzes Schwein verschwinden«, sagte Boleslav. »Sie hatte mitten in der Manege einen kleinen Klapptisch aufgebaut, auf dem ein Tier saß.«
»Eine Katze?«, sagte Hakon, der das Bild klar und deutlich vor Augen hatte.
»Richtig. Da waren also dieser Tisch und diese Katze und Irina, aber sonst nichts. So wie sie den Trick vorführte, war er nicht spektakulär. Was sie tat, war dann allerdings ...«
»... atemberaubend«, vollendete Vera den Satz.
»Ja, atemberaubend«, sagte Boleslav nachdenklich, als versuchte er immer noch zu verstehen, was Hakons Mutter an diesem Tag mit der Katze angestellt hatte. Er nippte an seinem Bier und lachte kopfschüttelnd.
»Und was war so atemberaubend?«, fragte Nadja ungeduldig. Sie fühlte sich ausgeschlossen, das spürte Hakon. Ihr gefiel es nicht, dass ihre Eltern und Hakon Erinnerungenhatten, an denen die nicht teilhaben konnte. Er ergriff ihre Hand und drückte sie.
»Sie hat ein Tuch über die Katze geworfen. Es sank nieder, und die Katze war verschwunden.«
»Und? Zauberte sie sie wieder zurück?«
Hakon nickte. »Oh ja. Sie lüpfte das Tuch einfach wieder. Da saß das Tier wieder und leckte seine Pfoten, als sei überhaupt nichts geschehen.« Er musste lachen. »Irgendwie hatte meine Mutter kein Gefühl, wie sie diesen Trick präsentieren musste, um ihr Publikum zu fesseln. Dabei war er geradezu umwerfend gut.«
»Aber sie lernte schnell«, gab Boleslav zu. »Mittlerweile glaube ich, dass es kein Trick war, sondern echte Magie. Irina Koroljowa hatte die Gabe, und sie verbarg sie vor uns.«
»Kein Wunder, denn sie wollte nicht als Eskatay erkannt werden«, sagte Hakon.
»Dabei sah sie wirklich nicht wie die Inkarnation des Bösen aus. Wer vermutet denn auch schon, dass an diesen alten Legenden etwas dran sein könnte«, sagte Boleslav.
»Ja«, sagte Hakon leise. »Wer vermutet das schon.« Er holte tief Luft und es klang wie ein Seufzen.
»Wie lange blieb sie bei euch?«, fragte Nadja.
»Bis zu Hakons Geburt«, sagte Vera.
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