Morland 02 - Die Blume des Bösen
verlieh.
Tess klopfte an die Hausnummer 14 und wartete. Nichts schien sich in diesem schäbigen Reihenhaus zu rühren. Tess trat zurück und schaute nach oben. Ein Vorhang bewegte sich leicht. Also war doch jemand daheim. Tess klopfte erneut, diesmal aber ausdauernder.
»Ist ja gut, ist ja gut«, brummte jemand und Tess hörte Schritte eine Treppe hinunterkommen. »Bin ja schon da.«
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet und ein unrasierter Mann, der außer einer Unterhose nichts trug, schaute Tess blinzelnd an. »Was ist? Was willst du von mir?«
»Sind Sie Julius Schöpping?«
»Wer will das wissen?«
»Ich heiße Tess Gulbrandsdottir.«
»Kenn ich nicht. Hau ab. Lass mich in Ruhe.« Der Mann wollte die Tür wieder zudrücken, aber Tess hielt sie einfach auf. Schöpping stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch es war zwecklos. Der Mann stolperte, fiel unbeholfen zu Boden und starrte Tess mit großen Augen ängstlich an. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.
»Sind Sie Julius Schöpping ?«, fragte sie erneut.
Der Mann nickte hastig.
»Was ist Ihre Gabe?«
Schöpping blinzelte und leckte sich die spröden Lippen. »Welche Gabe? Wovon redest du?«
Tess packte den Mann am dürren Handgelenk und zog ihn hoch wie eine Puppe.
»Au! Du tust mir weh!«, schrie er.
»Ich frage Sie zum letzten Mal: Was ist Ihre Gabe?« »Ich kann im Dunkeln sehen«, keuchte er.
»Das ist alles?«, fragte Tess überrascht. »Sie können im Dunkeln sehen?«
Schöpping rieb sich die Handgelenke. »Mir reicht es.« »Sie haben sich nicht ausdifferenziert?«
Er blickte sie hasserfüllt an. »Nein! Und weißt du was? Ich bin froh drum! Ahnst du, was es heißt, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nachts ist es besonders schlimm. Ich muss mir immer eine Binde um die Augen legen, damit ich schlafen kann.«
»Sie schlafen oft, nicht wahr?«
»Da kannst du deinen kleinen Hintern drauf verwetten! Verdammt, was willst du von mir?«
»Ich bin ein Gist«, sagte Tess.
»Was du nicht sagst! Hätte ich gar nicht bemerkt. Hör mal, wenn du was von mir willst, treffen wir uns im Hotel.«
»Ich will aber wissen, wie Sie im echten Leben aussehen.«
»Das echte Leben?« Schöpping lachte böse. »Nennst du das hier das echte Leben? Findest du dies hier lebenswert?« Er machte eine weit ausladende Geste.
»Nein«, musste Tess zugeben.
»Na also. Dann komm mir nicht auf die philosophische Tour. Noch mal, was willst du von mir?«
»Ich möchte etwas über meine Eltern erfahren.«
»Ha! Und wie kommst du darauf, dass ich dir da helfen könnte?«
»Sie sind ein Gist!«
»Und?«
Tess war sprachlos. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit solcher Gleichgültigkeit.
»Noch einmal: Wenn du mit mir sprechen willst, komm ins Hotel. Du findest mich an der Bar. Dort habe ich meinen Stammplatz.«
Mit einer linkischen Bewegung zupfte er seine Unterhose zurecht und zog trotzig wie ein Kind die Nase hoch. Tess starrte den Mann vollkommen entgeistert an.
»Was ist jetzt? Verschwinde! Lass mich in Ruhe!«, fuhr er sie an und wedelte mit den Händen, als wollte er eine lästige Fliege fortscheuchen.
Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss, als Tess das Haus verließ. Das hatte sie sich anders vorgestellt! Aber da stand ja noch ein weiterer Name auf der Liste.
Helga Varnrode wohnte in einem kleinen Ort namens Kätting, nordöstlich von Lorick. Um dort hinzugelangen, musste Tess einen Vorortzug nehmen, der um diese Zeit des Tages bis auf einige müde Soldaten leer war. Als sie in den Wagen stieg, schauten die Uniformierten nur träge auf, um dann wieder die Augen zu schließen und einzunicken. Tess betrachtete ihre Gesichter. Es waren junge Burschen, nicht viel älter als sie selbst. Die meisten mussten sich noch nicht einmal rasieren. Tess fragte sich, ob sie wussten, wofür sie kämpften, oder ob sie nur stumpfe Befehlsempfänger waren. Wahrscheinlich verstanden sie noch nicht einmal, was gerade in diesem Land vor sich ging.
Tess setzte sich auf eine freie Bank und schaute aus dem Fenster, wo die Landschaft an ihr vorbeiflog. Verstand überhaupt jemand, was gerade geschah? Noch hatten die Eskatay ihre Deckung nicht verlassen, sodass jeder denken musste, Präsident Begarell hätte aus Sorge um den Staat die meisten Grundrechte außer Kraft gesetzt. Und bisher waren es auch nur die Arbeiter gewesen, die sich gegen ihn erhoben. Freilich, es war kein organisierter Widerstand, aber er war
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