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Morland 02 - Die Blume des Bösen

Titel: Morland 02 - Die Blume des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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sind.«
    Tess verstand nicht so recht, was Nora damit meinte. Stattdessen fragte sie: »Wie viele Gist gibt es?«
    »Wir sind zweiundneunzig«, sagte Nora.
    »So wenige?« Tess war bestürzt.
    »Wir waren einmal mehr. Sehr viel mehr.« Nora holte tief Luft. »Es waren zweitausend Eskatay, die vor sechstausend Jahren wie durch ein Wunder das Sterben in den Bunkern überlebten. Und dann geschah ein weiteres Wunder: Einige der Frauen wurden schwanger. Sie waren die ersten Gist.«
    »Aber ... was ist geschehen?«, fragte Tess.
    »Keine Ahnung. Wir wissen nur, dass einzig die Gist magisch begabte Kinder bekommen können«, sagte Nora. »Und dass die Vererbung rezessiv ist.«
    »Rezessiv? Was bedeutet das?«
    »Ist ein Elternteil ein nicht magisch begabter Mensch, vererbt sich die Gabe nicht weiter. Nach dem Krieg wollten die, die mit der Begabung überlebt hatten, nichts mehr von Magie wissen. Sie wussten, dass man sie töten würde, wenn herauskäme, dass Magischbegabte überlebt hatten. Dieser Krieg war anders als alles, was man sich vorstellen konnte. Die Waffen hatten eine ungeheure Zerstörungskraft, beinahe alles Leben war ausgelöscht. Die überlebenden Eskatay nannten sich fortan Gist, um sich von ihrem schrecklichen Erbe loszusagen.
    Damit niemand hinter ihr Geheimnis kam, blieben sie unter sich und verbargen ihre Gaben vor den anderen Menschen. Schon früher gab es das Grand Hotel . Es sah nur ein wenig anders aus als heute und hatte auch einen anderen Namen. Man nannte diesen Ort Nexus . Manche benutzen diesen Begriff heute noch. Dort treffen wir uns seit vielen Tausend Jahren, ohne dass wir in der realen Welt Kontakt miteinander aufnehmen müssen.«
    »Und was ist mit den Kindern?«, fragte Tess.
    »Du meinst, ob es außer Hakon, York und dir noch andere gibt?«, fragte Nora. »Nein. Ihr seid die letzten.«
    Tess schluckte. »Warum mussten unsere Eltern sterben?«
    »Die Antwort auf diese Frage musst du selbst finden. Ich kenne sie nicht«, sagte Nora. »Du musst dich auf die Suche nach ihnen machen.«
    »Wo muss ich suchen? Im Hotel oder in der realen Welt?«, fragte Tess, in der langsam die Verzweiflung hochstieg.
    »Versuche beides. Wahrscheinlich hast du im Hotel sogar mehr Erfolg.«
    »Ich kann nicht so lange warten, bis ich wieder eingeschlafen bin«, rief Tess. »Mir ... nein, uns läuft die Zeit davon! Sie werden doch bestimmt wissen, wo einige der Gist leben!«
    »Ja, das weiß ich.«
    »Dann geben Sie mir bitte die Adressen«, sagte Tess ungeduldig.
    Nora seufzte und arbeitete sich aus dem Bett. Mit schlurfenden Schritten ging sie zu einer Kommode, öffnete eine Schublade und nahm einen Zettel und einen Stift heraus. Ohne auf das Blatt zu schauen, schrieb sie etwas darauf.
    »Hier«, sagte sie und reichte Tess das Blatt. »Es sind zwei Namen. Viel Glück.«
     
    Julius Schöpping lebte in Tyndalls Herringsgatan. War das Viertel für sich schon der schäbigste Stadtteil Loricks, so stellte die Herringsgatan noch einmal einen besonderen Tiefpunkt dar. Hier hatten die Gerber und Seifensieder ihre Manufakturen. Der Gestank, der in den Straßen hing, ließ Tess würgen. Sie hatte für den weiten Weg dorthin einen der wenigen und deswegen überfüllten Busse genommen und so einen Blick auf diesen Teil der Stadt werfen können. Überall sah sie ausgebrannte Ruinen und an Wände geschmierte Parolen. Flugblätter, die zu Ruhe und Ordnung aufriefen, trieben durch die Luft. Niemand machte sich die Mühe, sie zu lesen.
     
    Von der Bushaltestelle war es noch einmal eine Viertelstunde zu Fuß. Sie musste nicht nach dem Weg fragen, denn es reichte aus, wenn sie einfach ihrer Nase folgte.
    Die Menschen, die hier lebten, waren erbärmlich gekleidet. Nur die wenigsten Kinder, die alle vor Dreck starrten und zerrissene Hosen trugen, hatten Schuhe an den Füßen. Die jungen Mütter sahen älter aus, als sie an Jahren zählen mochten, denn die meisten von ihnen hatten so gut wie keine Zähne mehr im Mund. Ihre grauen Gesichter waren faltig und eingefallen. Die wenigen Männer taumelten durch die Straßen, als wären sie betrunken. Vermutlich waren sie das auch.
    Hier lebte der Abschaum Loricks, der Bodensatz, die unterste Unterschicht. Niemand hier hatte jemals eine Schule länger als zwei oder drei Jahre von innen gesehen. Es war wichtiger, schon früh für die Familie Geld zu verdienen. Wer hier geboren war, würde hier auch sterben nach einem hoffnungslosen Leben, dem oft nur der Alkohol traurige Höhepunkte

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