Morland 02 - Die Blume des Bösen
kleine Holzhämmerchen, das vor ihm lag. »Der Gefangene bleibt so lange in Gewahrsam, bis er sich dazu herablässt, dem Gericht seine Identität zu offenbaren. Bis dahin wird er in Flügel A untergebracht. Der Nächste.« Das Hämmerchen knallte auf den Tisch.
Die Wache packte Lennart grob beim Arm und zerrte ihn weg. Ein Kichern kitzelte in seiner Kehle und er konnte nicht anders, als dem Drang nachzugeben. Es platzte heraus, erst leise und ein wenig atemlos, dann verwandelte es sich in ein dröhnendes Lachen, das den Saal noch erfüllte, als er ihn bereits verlassen hatte.
Flügel A unterschied sich in seinem Aufbau kaum von dem Untersuchungsblock, in dem Lennart die erste Nacht verbracht hatte. Es war ein dunkler Bau, der mehr an eine verkommene Fabrikhalle als an ein Gefängnis erinnerte und dessen Zellen in umlaufenden Galerien untergebracht waren, die sich über fünf Stockwerke erstreckten. Die einzige natürliche Lichtquelle war ein walmdachartiges Oberlicht, dessen Glas so trübe und verschmutzt war, dass man die Farbe des Himmels nicht mehr ausmachen konnte. Damit keiner der Gefangenen auf die Idee kam, seiner gerechten Strafe durch einen beherzten Sprung in den Tod zu entkommen, hatte man in jeder Etage relativ weitmaschige Netze gespannt, sodass der Trakt wie ein riesiger Vogelkäfig aussah. Die Zeit des Aufschlusses war noch nicht gekommen und so hockten einige der Gefangenen jetzt in ihren Zellen und rüttelten laut grunzend wie Affen vor der Fütterung an ihren Gittern. Andere schlugen laut heulend mit ihren Holzpantinen gegen die Stäbe, wobei die eisernen Geländer den Lärm noch verstärkten.
Als Lennart hinauf in den fünften Stock geführt wurde, streckten sich zahllose Hände nach ihm aus, um ihn zu greifen oder zu schlagen. Die Wache machte keinerlei Anstalten einzuschreiten. Jeder beschimpfte Lennart mit Ausdrücken, die selbst er nicht kannte. Und das sollte etwas heißen, denn er war lange als Polizist auf der Straße gewesen. Plötzlich schnellte ein Arm vor. Die Bewegung war so überraschend, dass Lennart nicht ausweichen konnte. Ein Gefangener schüttete ihm etwas ins Gesicht, und Lennart hoffte, dass es nur Wasser war.
Was für ein Empfang, dachte er und schluckte trocken. Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung verspürte er echte, nackte Angst.
»Zelle 513 öffnen!«, rief die Wache laut. Tief unter ihnen wurde ein schwerer Hebel umgelegt und das Gitter schob sich mit einem pneumatischen Zischen auf. Lennart trat ein und blieb stehen.
»Zelle 513 schließen!«
Das Gitter fiel wieder ins Schloss. Lennart, der die Prozedur kannte, trat einen Schritt zurück und streckte seine Hände durch die kleine Öffnung in der Tür. Die Fesseln wurden ihm abgenommen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging die Wache wieder fort.
Lennart massierte seine Gelenke und schaute sich um. Die neue Bleibe unterschied sich nur unwesentlich von der Untersuchungszelle, in der er die erste Nacht verbracht hatte. Auf seiner Pritsche lagen eine Kluft zum Wechseln, ein Handtuch, ein Stück Seife, eine neue Zahnbürste, deren Griff ebenfalls abgesägt war, und eine Tüte mit Zahnpulver. Für die Mahlzeiten gab es eine Holzschüssel ohne Besteck. Entweder musste er mit den Fingern essen oder aber es würde fortan nur Suppe auf dem Speiseplan stehen. An der Wand über der Pritsche hing eine Gefängnisordnung, die jedes Detail der Haft regelte. Lennart überflog die einzelnen Absätze und blieb schließlich bei Paragraf 26 hängen.
Zuwiderhandlungen gegen die Anstaltsordnung werden wie folgt bestraft:
a. mit Entziehung der dem betreffenden Gefangenen zugestandenen Erleichterungen bis zu 4 Wochen;
b. mit Entziehung der warmen Kost bis zu 8 Tage;
c. mit erschwerten Arbeiten bis zu 4 Wochen;
d. mit Isolationshaft bis zu 2 Wochen;
e. mit dem Anlegen von Fesseln bis zu 4 Wochen;
f. mit dem Anlegen doppelter Fesseln und Kugeln bei gefesselten Gefangenen für den gleichen Zeitraum;
g. mit körperlicher Züchtigung bis zu 25 Stockhieben.
Die Strafen unter a. und b. können unter erschwerenden Umständen mit denen ad c., d., e. und f. verbunden werden.
Diese Anordnungen waren in ihren Formulierungen deutlich und unmissverständlich. Sie bedeuteten vor allen Dingen eins: Der Gefangene hatte keinerlei Rechte. Immerhin galt es, eine Schuld an der Gesellschaft abzutragen. Hagen Lennart fragte sich, welche Verrichtungen ihm zur Sühne seiner begangenen Tat auferlegt wurden.
»Häftling 176671«, schnarrte eine
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