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Morland 02 - Die Blume des Bösen

Titel: Morland 02 - Die Blume des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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über welche Begabung die alte Frau genau verfügte – wenn man einmal davon absah, dass sie trotz ihrer blinden Augen sehr gut sehen konnte. Nur eines spürte Tess ganz genau: Die alte Frau war stärker als sie zu sein vorgab.
    Tess war nach dem nächtlichen Fehlschlag zu enttäuscht gewesen, als dass sie Lust auf Konversation verspürte. Nora schien das zu ahnen, denn sie sagte kein Wort. Sie räumte sogar den Tisch alleine ab, damit Tess sich in ihre Kammer zu rückziehen konnte, wo sie sich wusch und wieder in ihre Sachen schlüpfte, die an einem Bügel an der Tür ihres Zimmers hingen.
    Sie war es leid gewesen, immer in Hosen he rumzulaufen, und hatte sich von Nora ein dunkelblaues, knie langes Kleid mit schmalem weißen Spitzenkragen aus ihrem schier unermesslichen Fundus geben lassen. Es saß perfekt und sie fand, dass die kurzen Haare in einem interessanten Widerspruch zu ihrer weiblichen Aufmachung standen.
    »Unsere Vorräte gehen zur Neige«, sagte Nora, als Tess die Treppe herunterkam. »Wir haben nur noch ein halbes Brot und einige Äpfel. Dazu etwas Mehl und Honig, aber keine Milch.«
    »Ich werde schauen, ob die Geschäfte geöffnet haben.«
    »Braves Kind«, sagte Nora und lächelte. Sie wollte Tess gerade eine Tasche geben, als plötzlich jemand laut gegen die Glasscheibe der Ladentür klopfte.
    Tess und Nora sahen sich an.
    Erneutes Klopfen, diesmal lauter und begleitet von einerschnarrenden Stimme, die ihnen befahl, sofort zu öffnen. Tess wollte aufstehen, aber Nora kam ihr zuvor und legte eine Hand auf ihren Arm, um ihr zu bedeuten, dass sie sitzen bleiben sollte.
    »Du bleibst hier«, flüsterte sie Tess zu und schlurfte auf ihren Stock gestützt durch den Laden. Wieder wurde gegen die Scheibe geklopft, diesmal so heftig, dass Tess Angst um das Glas bekam.
    »Aufmachen, verdammt noch mal!«, rief die Stimme. »Sonst schlagen wir die Tür ein.«
    »Ist ja gut«, sagte Nora vollkommen unbeeindruckt. »Ich bin schon da.« Sie kramte aus ihrer Kittelschürze einen Schlüssel, steckte ihn in das Schloss und drehte ihn um. Sofort sprang die Tür auf und sechs Soldaten drängten die alte Frau beiseite. Der Anführer, der im Unterschied zu seinen Kameraden Schulterklappen und zwei gelbe Winkel auf der grauen Uniformjacke trug, zog eine Pistole aus dem Halfter und fuchtelte wild mit ihr herum, als sei der kleine Trödelladen in Wahrheit die geheime Kommandozentrale einer Untergrundarmee.
    »Zwei Mann hoch in die obersten Stockwerke, zwei Mann in den Keller.«
    »Dieses Haus hat keinen Keller«, sagte Nora.
    Der Soldat reagierte nicht. »Beeilt Euch. Ryskov, Sie bleiben bei mir.«
    »Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte Nora ruhig.
    Erst jetzt ließ sich der Offizier – wenn er überhaupt einer war, Tess kannte sich mit Rangabzeichen überhaupt nicht aus – dazu herab, Noras Anwesenheit mit einem Blick zurKenntnis zu nehmen, der eine Mischung aus Verachtung und Überlegenheit widerspiegelte.
    »Sie setzen sich bitte wieder auf Ihren Platz und stören uns nicht.«
    »Noch einmal: Sie verschwenden Ihre Zeit. Hier gibt es nichts, was für Sie von Interesse wäre. Oder das Sie verstehen könnten.«
    Tess sah, dass der Mann Nora am liebsten rüde weggestoßen hätte, doch er schien noch einen Rest von Anstand bewahrt zu haben. Dann machte er einen Schritt beiseite, reckte das Kinn vor und begann mit einer Ernsthaftigkeit die Sachen aus den Regalen zu reißen und auf den Boden zu werfen, die Nora ganz offensichtlich belustigte, denn sie lächelte nur milde.
    Tess fand die Durchsuchung alles andere als lustig. Zu gegenwärtig waren ihr noch die Erinnerungen an das Leben im Waisenhaus, wo Razzien wie diese an der Tagesordnung waren und in erster Linie dazu dienten, die Kinder einzuschüchtern und gefügig zu machen. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und schaute der Durchsuchung mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen zu.
    Über ihr hörte sie das Poltern schwerer Stiefel. Aus den Ritzen zwischen den Dielen rieselte sogar etwas Staub, als ob im ersten Stock ein schwerfälliges Ungetüm Möbel verschob, um nach Personen zu suchen, die sich hinter Schränken oder unter den Betten versteckt hatten. Die Wut griff kalt nach ihrem Herzen. Mit welchem Recht drangen die Soldaten in diese Welt aus staubigen Erinnerungen und zauberhaften Überraschungen ein? In den Gesichtern der beiden Soldaten,die den Laden so akribisch wie rücksichtslos durchsuchten, sah sie nur müde Gleichgültigkeit.
    Dann fiel Tess

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