Morland 02 - Die Blume des Bösen
Wahnsinn hineinrutschte.
Um sechs Uhr ertönte die Sirene, die pünktlich zum Sonnenaufgang den Morgen auch endlich offiziell ankündigte. Hagen Lennart gelang es erst beim dritten Versuch aufzustehen. Seine Hände und Finger waren steif wie totes Treibholz. Er versuchte, eine Faust zu machen, gab es aber auf, als der Schmerz seine Handgelenke zu sprengen drohte. Er richtete seine Pritsche, so gut es ging, her, nahm den Eimer, der ihm als Toilette gedient hatte, und stellte sich an die Zellentür.
Der für die Notdurft zuständige Kalfaktor schob seinen großen Wagen mit dem Fäkalienkübel an den Zellen vorbei, die einzeln geöffnet und geschlossen wurden. Damit keiner der Gefangenen auf dumme Gedanken kam, begleitete den Kalfaktor eine Wache – natürlich in sicherem Abstand, denn der Gestank, den der Fäkalienkübel verströmte, war atemberaubend.
Zehn Minuten später quietschte der nächste Wagen über die Galerien an den Zellen vorbei. Das Frühstück wurde ausgegeben, bestehend aus dünnem Haferbrei und wässrigem, lauwarmem Tee ohne Zucker. Das Tablett wurde kommentarlos durch den Spalt im Gitter durchgereicht. Lennart wusste nicht, wie viel Zeit ihm für diese Mahlzeit blieb, deswegen schlang er alles möglichst schnell hinunter.
Etwas Gutes hatte diese durchwachte Nacht für ihn gehabt. Er wusste, dass er nicht mehr tiefer sinken konnte. Ihmblieben zwei Möglichkeiten: Entweder er nutzte die nächstbeste Gelegenheit zum Selbstmord oder aber er setzte alles daran, hier möglichst schnell herauszukommen. Ersteres kam für ihn nicht infrage. Nicht solange seine beiden Töchter noch lebten. Immer wenn er die Augen schloss, sah er ihre angsterfüllten Augen, die Arme nach ihm ausgestreckt. Nichts auf Erden konnte schlimmer sein als dieses Bild. Und deswegen hatte er sich dazu entschlossen, seinem Leben kein Ende zu setzen, sondern einen Plan zu entwickeln, diesem Vorhof der Hölle zu entkommen.
Auf ein faires Verfahren oder gar einen Freispruch konnte er nicht hoffen, ebenso wenig auf einen Gnadenerlass. Lennart blieb nur eine Möglichkeit: Er musste fliehen. Dabei musste er mit einigen nicht unerheblichen Widrigkeiten zurechtkommen. Von außen konnte er keine Hilfe erwarten, und hier drinnen konnte er niemandem trauen. Wenn seine Mitinsassen herausbekamen, dass er Polizist gewesen war, war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Hinzu kam der Zeitdruck, unter dem er stand. Lebenslänglich Verurteilte konnten sich in aller Ruhe auf einen Ausbruch vorbereiten und das nötige Netzwerk innerhalb wie außerhalb der Mauern aufbauen, doch dazu fehlte ihm die Zeit. Er musste es also alleine versuchen.
Dazu war es wichtig, sich möglichst schnell ein Bild von dem Gefängnis und seinen Abläufen zu machen. Eine Flucht war möglich, das wusste er aus seiner Zeit als Polizist. Andere hatten das bereits vorgemacht, obwohl es jedes Mal ein halsbrecherisches Unterfangen war. Und obwohl das Staatsgefängnis seit dieser Zeit mehrmals umgebaut worden war,wusste er, dass man niemals alle Lücken im System schließen konnte. Wo Menschen arbeiteten, da wurden Fehler gemacht.
»He, was ist?«, fragte eine müde Stimme vor seiner Zelle. »Brauchst du eine Extraeinladung?«
Lennart blickte von seinem leeren Teller auf und trank den letzten Schluck Tee. Der Kalfaktor wartete schon darauf, sein benutztes Geschirr einzusammeln und dann weiterzuziehen.
Lennart schloss den obersten Knopf seiner Sträflingsuniform und setzte die Kappe auf. Zeit für den Appell. Pavo mochte zwar lästig sein, aber die Informationen, die er Lennart gegeben hatte, waren Gold wert gewesen. Es gab viele Verhaltensregeln und Vorschriften, gegen die Lennart zwangsläufig verstoßen hätte. Dazu gehörte zum Beispiel, dass immer alle Knöpfe der Sträflingsjacke geschlossen sein mussten, ansonsten drohten drakonische Strafen. So gesehen musste er dem Mann mit dem Wieselgesicht dankbar sein. Dennoch konnte er ihn nicht ausstehen.
Mit einem lauten Zischen glitten die Zellengitter beiseite. Lennart machte einen Schritt vor und stellte sich mit leicht gespreizten Beinen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, auf die Galerie.
»Zug 1 zum Appell!«, dröhnte es durch das Gebäude, und die Gefangenen des Erdgeschosses machten sich im Gleichschritt auf den Weg in den Hof.
»Zug 2 zum Appell!« Durch die Streben des Laufgitters konnte Lennart sehen, wie sich die Sträflinge unter ihm in Bewegung setzten.
»Zug 3 zum Appell!« Hagen machte eine
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