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Morland 02 - Die Blume des Bösen

Titel: Morland 02 - Die Blume des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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hinaus, die mitten im schwarzen Nichts schwebte und verzweifelt versuchte, wenigstens einen Blick in die Empfangshalle zu werfen. Aber sie kam nicht von der Stelle. Egal wie sehr sie sich anstrengte, die Dunkelheit schien eine zähe, klebrige Konsistenz zu haben, die ihre Bewegungen verlangsamte und sie wie in einen Kokon einhüllte. Dann begann das, was an dieser Stelle immer passierte. Die Fassade bekam Risse, Ornamente brachen ab und stürzten in die Tiefe, wo sie zerschellten. Das Licht flackerte wie bei einem untergehenden Schiff, nur dass sich Tess nicht auf hoher See befand, sondern in einem Niemandsland nächtlicher Fantasien, die das Grand Hotel langsam in ihr altes Kinderheim verwandelten. Mit einem lauten Schrei fuhr Tess aus dem Schlaf.
    Keuchend starrte sie auf das Bettlaken. »Verdammt«, sagte sie schließlich. »Verdammt, verdammt, VERDAMMT! Ich war so kurz davor!« Sie zeigte einen Abstand zwischen dem Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand, ließ sie aber wieder sinken, als ihr einfiel, dass Nora, die neben ihr in einem hohen Lehnstuhl saß, natürlich nicht sehen konnte, um wie viel Tess ihr Ziel verfehlt hatte.
    »Geduld ist nichts für Mädchen in deinem Alter, nicht wahr?«, sagte Nora, die Hände auf den Stock gestützt. »Ichhabe fast ein Jahr gebraucht, um meine Träume zu kontrollieren.«
    Tess schlug das Laken beiseite und stand auf. »Ich muss mal«, brummte sie.
    »Nur zu«, sagte Nora vergnügt. »Du weißt ja, wo die Toilette ist.«
    Tess schlüpfte in ein paar Filzhausschuhe und zog sich einen Morgenrock über, den die alte Dame noch in ihrem Ladenbestand hatte. Erst hatte sich Tess geweigert, dann aber festgestellt, dass dieses mit rosa Blümchen bedruckte Ungetüm in der Nacht ganz praktisch war, denn die Toilette befand sich draußen im Garten. Dem echten Garten. Nicht dem, den man von der Küche aus sehen konnte.
    Um leichter in den Zustand des Klarträumens zu gelangen, hatte sie auf Noras Empfehlung einen Trick angewandt. Am Abend hatte Tess mehrere Gläser Wasser getrunken, sodass sie am frühen Morgen der Drang einer vollen Blase aus dem Tiefschlaf hob.
    Tess verriegelte die Tür mit einem Haken, da sie schief in den Angeln hing und immer wieder von alleine aufschwang. Fliegen summten in der stechenden Luft, als sich Tess auf das Loch setzte. Sie hasste Plumpsklos. Der Teufel wusste, was da unten in der Dunkelheit hocken mochte und sich von menschlichen Exkrementen ernährte.
    Es war ein zwielichtiger Tag, der da gerade anbrach. Der Himmel hatte eine graue Farbe, die noch nicht ahnen ließ, ob sie sich in einen etwas optimistischeren Ton verwandeln würde. In der Ferne war ein dumpfes, rhythmisches Pochen zu hören, immer drei Schläge in Folge, dann eine kurzePause. Es klang wie bei einem Feuerwerk, nur dass hier wohl keine Raketen in den Himmel geschossen wurden, um das Ende eines Festes einzuläuten.
    Tess fröstelte nicht nur wegen der morgendlichen Kühle. Sie zog den Kragen des Morgenrocks enger zusammen und schaute hinauf in den Himmel, den jetzt ein nur allzu bekanntes Dröhnen erfüllte. Kurz darauf schob sich ein Luftschiff in ihr Blickfeld. Der Anblick war majestätisch und bedrohlich zugleich. Obwohl es seit der Explosion über der Midnarbrücke klar sein musste, dass die mit Wasserstoff gefüllten Riesen alles andere als unverletzlich waren, hatte man nicht auf den Einsatz der Luftschiffe verzichtet. Der taktische Vorteil schien offenbar das Risiko wert zu sein. Tess bemerkte, dass man die Gondeln mit mehreren Maschinengewehren bestückt hatte. Mehr als einen Glückstreffer würde ein Angreifer nicht landen können, bevor die Mannschaft das Feuer eröffnete.
    Tess und Nora hatten lange in der Küche gesessen, diesem Refugium, das sich außerhalb der Welt Morlands befand. Wenn sie durch das Fenster hinauf zum blauen Himmel blickte, hatte Tess das Gefühl, sich an einem magischen Ort zu befinden, der eine seltsame Geborgenheit ausstrahlte. Und auch Nora schien förmlich aufzublühen, wenn sie gemeinsam an dem blank polierten Tisch saßen, Tee tranken und durch das geöffnete Fenster dem fremdartigen Gesang der Vögel lauschten, die in der Krone des weit ausladenden Baumes saßen, der den Garten wie ein gutmütiger Riese zu schützen schien. Sie konnten in der Küche einen Tag verbringen, während vor der Ladentür in Süderborg nur eineStunde verstrich. Oder umgekehrt. Tess wusste nicht, ob Noras Gabe die Ursache dafür war. Gott, sie wusste ja noch nicht einmal,

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