Morland 02 - Die Blume des Bösen
plötzlich ein, dass sie keinerlei Angst haben musste. Womit konnten die beiden Männer sie schon beeindrucken? Mit ihrem sicheren Auftreten? Ihren Waffen? Ihrer Überlegenheit?
Tess atmete langsam aus. Nichts auf der Welt konnte sie schrecken. Sie hatte gegen Swann, den Chef der Geheimpolizei, einem mächtigen Eskatay, gekämpft, da würde sie nicht vor Menschen zurückweichen, die keine magische Begabung aufweisen konnten. Die Soldaten mochten zwar wissen, wie man möglichst brutal und einschüchternd auftrat, aber sie hatten keine Ahnung, in welcher Gefahr sie sich im Augenblick befanden.
Tess stand langsam auf und drückte ihren Rücken durch, bis ihre Wirbel knackten. Sie spürte, wie diese Kraft, herbeigerufen durch die Wut, sie erfüllte, ihr die Haare wie bei einem Gewitter zu Berge stehen ließ und nun nach einem Ventil suchte, durch das sie entweichen konnte. Tess tat einen schweren Schritt nach vorne, um so einen sicheren Stand zu finden und ballte langsam die Fäuste. Die Welt versank in Dunkelheit, als hätte sich eine Sturmwolke vor die Sonne geschoben.
Nora wirbelte herum. Ihre Gestalt war plötzlich in ein helles Licht gehüllt und schien einige Zoll über dem Boden zu schweben. Für einen Moment hatte Tess das Gefühl, eine junge und vor allen Dingen erschreckend machtvolle Frau vor sich zu haben. Wie Tag und Nacht standen sie einander gegenüber.
»Tu es nicht«, flüsterte Nora.
Tess erschrak. Ihre Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte, lockerten sich und die Dunkelheit schwand.
»Hier oben ist nichts!«, rief eine Stimme. Die beiden Soldaten, die der Offizier hinaufgeschickt hatte, kamen die Treppe hinuntergepoltert.
»Die Alte hat die Wahrheit gesagt«, meinte ein anderer Soldat, der sich mit einem Bart wohl den Anschein geben wollte, älter zu sein, als er war. Abgesehen von dem dünnen Bewuchs an Kinn und Oberlippe hatte er das weiche Gesicht eines Jungen, der noch nicht lange ein Mann war. »Dieses Haus hat keinen Keller, aber da ist etwas anderes.«
Tess schrak zusammen. Der Teller, auf dem das angebissene Brot lag, fiel zu Boden und zersprang. Die Soldaten wirbelten herum. Einer richtete sogar reflexhaft seine Waffe auf Tess, doch sie wusste, dass er nur Angst hatte. Eine Welle des Mitgefühls hüllte sie wie eine warme Woge ein. Ihre Knie wurden weich und sie musste sich setzen.
»Da hinten ist eine Tür, die sich nicht öffnen lässt«, fuhr der junge Bursche fort, wobei er seinen Blick nicht von Tess abwenden konnte.
Der Offizier baute sich vor Nora auf. »Also?«
»Das ist nur die Küche«, antwortete sie. »Möchten Sie vielleicht einen heißen Tee? Ich kann Ihnen und ihren Männern gerne eine Kanne aufbrühen. Wahrscheinlich haben Sie noch einen harten Tag vor sich, und da tut so ein Tässchen Tee vielleicht ganz gut.« Sie setzte ihr charmantestes Lächeln auf, das aber ein wenig verloren wirkte, da es wegen Noras Blindheit ins Leere ging.
»Gehen Sie voraus«, sagte der Offizier. Der Ton, den er anschlug, war immer noch scharf.
Nora führte ihn und den Jungen mit dem dünnen Bart den Korridor entlang. Sie drückte ohne Anstrengung die Klinke nach unten und stieß die Tür auf.
»Aber ...«, stotterte der Milchbart. »Das verstehe ich nicht! Die Tür war verriegelt! Und wir haben sie auch nicht aufbrechen können!« Er bemerkte den vorwurfsvollen Blick seines Vorgesetzten und schwieg.
Tess war den dreien gefolgt und spähte jetzt neugierig an Nora vorbei in die Küche. Was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Der ganze Raum hatte sich verändert. Sicher, es war noch immer eine Küche, aber sie sah völlig anders aus. Die Möbel waren alt und abgestoßen, der Herd ein gusseisernes Ungetüm. Sonst war alles verschwunden: der Tisch, die Stühle und das Becken, in dem das Geschirr gespült wurde. Stattdessen stand dort ein großer hölzerner Zuber auf einem Hocker.
Doch dieses Bild war auf eine grundlegende Weise falsch. Als würde es nicht hierher gehören. Sie konnte es nicht anders beschreiben, obwohl ihr alles seltsam vertraut vorkam. Wieder überkam Tess ein leichter Schwindel und sie hielt sich an der Wand fest, um nicht umzukippen.
Auch die Gesichter der beiden Soldaten waren blass geworden. Keiner von beiden hatte den Mut, das Zimmer zu betreten. Etwas schien sie davon abzuhalten und sie mit einer Angst zu erfüllen, die sich in ihren Gesichtern widerspiegelte.
Der Offizier trat einen kleinen Schritt zurück. »Es ist gut«, sagte er leise. Dann drehte er sich
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