Morland 02 - Die Blume des Bösen
Vierteldrehung nach rechts und senkte den Blick. Tat er das nicht, würde die Wache ihn wegen provozierenden Benehmens mit dem Knüppel schlagen. Ohnehin sah man einem Wächter nie direkt in die Augen, es sei denn, man wurde von ihm angesprochen. Dann jedoch blinzelte man am besten noch nicht einmal.
Trotz des militärischen Drills marschierten die Gefangenen nicht im Gleichschritt, da die Stahlkonstruktion die Erschütterungen nicht verkraftet hätte. Erst als sie steinernen Boden unter den Füßen hatten, richteten sich die Gefangenen neu aus.
Der Hof, der sich vor ihnen öffnete, war ein baumloser, quadratischer Platz von sechshundert Fuß Seitenlänge. Dem Auge bot sich keine Abwechslung. Die Fenster waren alle mit weißer Farbe durchnummeriert, sodass sich die Gefangenen noch nicht einmal den Spaß machen konnten, sie zu zählen. Fünfhundertsechzig war die letzte Zahl. Obwohl der kahle Hof, der einhundertfünfzig mal einhundertfünfzig Schritt messen mochte, nur eine staubige, unmarkierte Fläche war, sah Lennart sofort, dass er in Reviere unterteilt war. Die Westecke war fest in der Hand der Todskollen, die Ostecke wurde von den Wargebrüdern beherrscht. Im Norden standen jene Capos, die keinem der Boxvereine angehörten. Pavo hatte Lennart erzählt, dass die Größe der Gruppen auf den ersten Blick ziemlich ausgeglichen war. Tatsächlich hatten die freien Capos eine nicht zu unterschätzende Macht, da die beiden Boxvereine Todfeinde waren. So waren sie bei Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen immerder entscheidende Faktor. Lennart vermutete, dass die freien Capos von der Gefängnisleitung eingesetzt worden waren, um die Verhältnisse wenigstens zu einem gewissen Maß zu kontrollieren.
Jede dieser Gruppen hatte ein System der Hierarchie etabliert, dessen Regeln festlegten, wie nah man den jeweiligen Anführern kommen durfte. Häftlinge, die in der Gefängnishierarchie ganz unten standen, trieben sich in der Hofmitte herum. Einfache Wasserträger, also die niederen Ränge der Vereine, die noch keine vollwertigen Mitglieder waren, hatten Zugang zum äußeren Kreis, während bewährte Bandenmitglieder, sogenannte Soldaten, bis zu den Subs durften, die die Rolle von Offizieren übernahmen und die wiederum den Großmeister abschirmten. Alles war genau festgelegt: von der Art der Kleidung über die komplizierten Begrüßungsgesten bis hin zu den streng geregelten Faustkämpfen, die darüber entschieden, welchen Rang der jeweilige Boxer bekleidete. Waren der Einfluss und die Macht groß genug, konnte auch ein Stellvertreter in den Kampf geschickt werden. Diese Stellvertreter, die man auch Professionelle nannte, waren durchtrainierte Söldner, die sich ihre Kampfstärke gut bezahlen ließen. Je besser der Professionelle, desto leichter konnte sein Auftraggeber aufsteigen. Und je reicher der Auftraggeber, desto besser waren die Professionellen. Manche von ihnen verdienten so gut, dass sie wiederum selbst eine kleine Armee zu ihrem eigenen Schutz anheuern konnten. Es ging natürlich meist um Geld, aber auch um Ehre und Ansehen. Lennart war zehn Jahre auf der Straße gewesen. Eigentlich konnte man sagen, dass er ein Experteauf diesem Gebiet war, aber den Ehrenkodex der Boxvereine verstand man nur, wenn man dazugehörte und einen geheimen Initiationsritus durchlaufen hatte, über den nur bekannt war, dass ihn nicht jeder überlebte.
Die Stellung eines Boxers innerhalb des Vereins konnte man sofort erkennen. Novizen der Todskollen scherten sich eine Glatze. Hatten sie ihren ersten Kampf gewonnen, wurden ihnen die Augenhöhlen eines Totenkopfes auf die Rückseite des Schädels tätowiert. Dann folgten nach und nach Nase, Zähne und Jochbein. Nur wenn diese Tätowierung vollendet war, konnte man sich Mitglied eines Boxvereins nennen. Diese Mitgliedschaft endete erst mit dem meist gewaltsamen Tod des Boxers. Entweder wurde er von einem gegnerischen Verein oder aber von seinen eigenen Sportsfreunden getötet. Gründe dafür gab es viele. Meist ging es um Geld, Opium oder gekränkte Ehre. Es gab unzählige Möglichkeiten, wie man einen Boxer beleidigen konnte. Lennart hatte jedenfalls noch nie davon gehört, dass einer von diesen Kerlen an Altersschwäche gestorben war. Wie auch immer. Für Lennart ging es nun erst einmal darum herauszufinden, welche Position er in diesem gleichseitigen Dreieck einnehmen sollte. Jedenfalls nicht in der Mitte wie Pavo, der wie ein Idiot den Arm hochgerissen hatte und ihn zu sich
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