Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
zeig, was du gelernt hast!« Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Porter setzte sich und legte den Kopf schief.
Tess streckte die Hand aus und berührte die Rinde des Baums. Sie fühlte sich genauso an, wie sie es erwartet hatte.
»Also gut«, murmelte Tess und schloss die Augen. Vielleicht war es wirklich nur eine Frage der Fantasie. Mithilfe von Andre hatte sie ihre mentalen Fähigkeiten trainiert. Sie würden ihr erlauben, den Strom der Zeit zu kontrollieren. Das hatte sie zumindest gehofft. Aber jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte. »Das hat keinen Zweck«, sagte sie wütend und öffnete die Augen.
Andre war nicht mehr da. Die ganze Landschaft hatte sich verändert. Tess stand noch immer unter der Esche, doch der Hügel war verschwunden. Sie drehte sich um. In der Ferne glitzerte das silberne Band eines Flusses.
»Die Midnar«, flüsterte Tess. »Ich bin wieder zu Hause!«
Das stimmte nicht ganz, denn Lorick war verschwunden. Nur einzelne Ruinen ragten über die Wipfel der Wälder, die sich nun von Horizont zu Horizont ausbreiteten. Kein Mensch war zu sehen.
Beim Gehen stieß Tess mit dem Fuß gegen einen Haufen Ziegelsteine. Das mussten die Überreste von Noras Haus sein. Hatte Andre mit seiner Vermutung Recht gehabt? Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Sie musste den Fluss der Zeit umkehren.
Tess berührte wieder den Baum, doch diesmal hielt sie die Augen geöffnet.
Es begann langsam. Erst blühten verwelkte Blumen auf, verwandelten sich in Knospen, um in grüne Zweige zurückzukriechen. Büsche schrumpften ebenso wie Bäume. Nur die Esche, die sie berührte, veränderte sich nicht. Wie durch Zauberhand setzten sich die Backsteine erst zu Wänden, dann zu einem Haus zusammen. Glasscheiben sprangen in die Fenster, das Unkraut kroch in die Erde und für einen kurzen Moment sah Tess einen Schatten von der Mauer ins Haus huschen. Sie bremste ab, versteckte sich hinter einer Werkzeugkiste und wartete ab. Es dauerte nicht lange, da hörte sie etwas in der Küche. Tess machte sich so klein sie konnte. Sie hatte Andres Warnung nicht vergessen. Wenn ihr anderes Ich sie jetzt entdeckte, war alles vorbei.
Dann sah sie die Tess, die sie selbst noch vor einigen Wochen gewesen war. Eine Tess, die keine Ahnung gehabt hatte von der wahren Macht ihrer Gaben und nicht in der Lage gewesen war, Nora zu retten.
Äußerlich hatte sie sich nicht verändert, wenn man einmal von der Kleidung absah. Aber sie wusste, dass sie bei Andre in eine gute Schule gegangen war. Ihr Alter Ego blieb einen Augenblick unentschlossen vor der Mauer stehen, dann kletterte es hinüber.
Das war der Moment, auf den Tess gewartet hatte. Sie eilte in die Küche, füllte ein Glas mit Wasser und rührte einen Teelöffel des weißen Pulvers hinein. Wie erwartet löste es sich nicht auf, weswegen sie den Löffel im Glas beließ. So schnell sie konnte, lief sie die Treppe hinauf in das kleine Zimmer unter der Dachschräge.
Nora lag noch immer im Bett. Ihr Atem ging langsam und gleichmäßig. Tess musste lächeln, als sie sich auf die Bettkante setzte. Sie rührte noch einmal die Flüssigkeit um und flößte sie ihrer Freundin ein. Nora hustete ein-, zweimal, schluckte aber alles hinunter.
Tess setzte sich in einen Lehnstuhl, auf den Nora normalerweise ihre Kleidung legte, und betrachtete die alte Frau. Sie hatte Nora in vielen Gestalten gesehen, aber so wie Andre sie kannte, war sie Tess besonders nah gewesen. Selbst jetzt, da Nora schlafend vor ihr lag, konnte sie in dem faltigen Gesicht mit dem beinahe zahnlosen Kiefer das Antlitz jenes jungen Mädchens erkennen, das Tess wie eine Schwester liebte. Sie ergriff die knochige Hand und weinte.
»Warum bist du so traurig?«, flüsternde eine zitternde Stimme. Nora hatte die Augen aufgeschlagen und blickte Tess liebevoll an.
»Weil ich gesehen habe, was diese Welt verloren hat«, sagte Tess und lächelte, obwohl ihr zum Weinen zumute war.
Noras Blick fiel auf die braune Flasche. »Du bist über die Mauer geklettert und hast es zurückgeschafft?«
»Andre hat mir geholfen«, sagte Tess und hoffte, dass Nora ihre Tränen nicht sah. »Sie sind eine außergewöhnliche Frau.«
Nora hob die Augenbrauen. »Oh Tess, wer bin ich gegen dich. Dir ist etwas gelungen, von dem ich nur träumen kann.«
Tess wollte etwas erwidern, als sie plötzlich innehielt. Auch Nora lauschte in sich hinein.
»Hakon«, sagte sie nur.
»Ja. Doch ich verstehe die Bilder nicht,
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