Morpheus #2
der Gesetze nicht rechtmäßig war –, dann wäre Anna Prados Leiche zwar vor dem Gesetz aus dem Kofferraum verschwunden, doch nicht in Wirklichkeit.
Auch Lourdes’ Märchen von der rachsüchtigen Staatsanwältin, die Vergeltung für ein jahrzehnteal-tes Verbrechen forderte, war fragwürdig. Gleichzeitig waren Chaskel in letzter Zeit selbst Zweifel an C.
J. Townsends Verhalten gekommen. Früher hatte er sich auf sie verlassen, jedes ihrer Worte glauben können. Das sah heute anders aus. Was den Überfall auf sie und Bantlings absurde Behauptungen anging, war Townsend alles andere als entgegen-kommend gewesen, und das war ein Zug, den Richter Chaskel in seinem Gericht nicht schätzte – den Mangel an Offenheit. So etwas hätte er vielleicht von der Verteidigung erwartet, aber nicht von einer Staatsanwältin der Major Crimes Unit. Doch offensichtlich hatte er die Latte zu hoch gelegt.
Sie hatten ihm das ganze Durcheinander einge-brockt. Beide -Townsend und Rubio. Doch nur Townsend war noch da, um zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Chaskel klopfte mit dem Stift auf den Tisch, tupfte sich noch einmal die Augen ab und nahm einen letzten Schluck kalten Kaffee. Dann stand er auf, legte die schwarze Robe an, die plötzlich schwer auf seinen alten Schultern lastete, und verließ das Büro.
Langsam ging er den stillen Gang hinunter, machte sich auf den Weg zur Richterbank, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Er schickte ein stilles Gebet zum Himmel, dass er richtig entscheiden würde. Und das Gott ihm verzeihen mochte, falls nicht.
SIEBENUNDSECHZIG
Die Tür des Richterzimmers öffnete sich mit einem Ruck, und Richter Chaskel eilte zur Richterbank. Selbst Hank, der sich gerade vor der Geschworenenbank mit einem Vollzugsbeamten unterhielt, hatte Chaskel nicht kommen hören. Für
«Erheben Sie sich!» war es zu spät, und so rief Hank hastig: «Setzen!» Keiner im Saal hatte sich erhoben.
Die Medien waren mit schwerem Gerät zurückgekehrt. Kaum hatte am Dienstagmorgen das Gericht die Tore geöffnet, als auch schon jeder Sender mit Mikrophonangeln, Kameras und Dollys sein Claim abgesteckt hatte. Jetzt war es später Nachmittag, und obwohl die meisten seit über sieben Stunden warteten, dachte niemand daran, den hart erkämpften Platz im Auditorium aufzugeben. Sie hatten den ganzen Tag hier verbracht, sich zum Lunch Pizza bestellt und Liveaufnahmen aus dem Gerichtssaal gesendet. Dabei würde das juristische Duell, das hier ausgefochten wurde, selbst die ent-schiedensten Fans von Courtroom-Serien in null Komma nichts zum Einschlafen bringen, dachte C.
J.
Die Fernsehübertragungen zeigten abwechselnd Einstellungen des Gerichtssaals im sonnigen Miami und die verschneite Straße vor Lourdes Rubios Kanzlei in Breckenridge, Colorado. Die Kameras zoomten auf das lakonische «Zu vermieten»-Schild, das im Schaufenster stand. Es sollte unheilvoll, gru-selig und desolat wirken, doch ab und zu tauchte ein anderer Reporter am Rand des Bildes auf, der dasselbe versuchte, und der Effekt misslang.
Dann gab es die Pressekonferenz mit dem Captain der örtlichen Polizei in Breckenridge, der eine betroffene Miene heuchelte, obwohl er ebenso begeistert war wie die Reporter. Er genoss die fünfzehn Minuten im Rampenlicht sichtlich, als er mit lauter, überraschend zuversichtlicher Stimme verkündete: «Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir gehen von einem Raubüberfall aus, aber wir beschränken uns nicht auf die eine Theorie. Lourdes ist einem sehr brutalen Verbrechen zum Opfer gefallen. Wir bitten die Öffentlichkeit um Mitarbeit.» Dass er das Opfer beim Vornamen nannte, sollte ein familiäres Gefühl vermitteln, nach dem Motto: «Wir alle müssen mit dem Verlust fertig werden.» Nur sprach er dabei Lourdes’ Namen falsch aus. Der Beitrag wurde alle zwanzig Minuten eingespielt, immer dann, wenn es im Gericht zu langweilig wurde, zusammen mit alten Aufnahmen von Lourdes von vor drei Jahren beim Bantling-Prozess.
Um zehn nach neun war Manny mit Chris
Masterson und Steve Yanni im Schlepptau einge-laufen, hatte sich zwei Minuten die Argumente angehört, gegähnt und einen Zettel an C. J. weiterrei-chen lassen. Darauf versprach er, mit Verstärkung zurückzukehren, sobald das juristische Geplänkel offiziell vorüber war. C. J. ließ ihm durch Marisol ausrichten, er solle am Nachmittag wiederkommen.
Das hätte sie wohl lieber nicht getan. Denn jetzt stand Marisol selbst hinten im Gerichtssaal, einge-zwängt zwischen
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