Morpheus #2
dass der Anruf bei der Polizei vor dem Gesetz kein hinreichender Grund für eine Fahrzeugkontrolle gewesen sei. Dadurch sei auch die spätere Durchsuchung des Fahrzeugs nicht rechtmäßig, und das Ergebnis der Suche – die Entdeckung der Leiche von Anna Prado und aller Indizien, die bei der Durchsuchung von Mr. Bantlings Haus gesichert wurden – sei somit nicht rechtserheblich. In ihrer Erklärung gibt Rechtsanwältin Rubio an, dass sie sich von persönlichen Sympathien für die Staatsanwältin C. J. Townsend habe leiten lassen, da diese selbst vor Jahren das Opfer sexueller Gewalt geworden sei. Daher habe sie die Information vorsätzlich vor ihrem Mandanten und dem Gericht zurückgehalten. Sie erklärt, sie habe das Beweisstück nicht vorgelegt, Zeugen im Kreuzverhör nicht wirk-sam befragt und ihren Mandanten nicht nach bes-tem Wissen und Gewissen verteidigt.
Mit der Erklärung von Rechtsanwältin Rubio präsentiert der Angeklagte eine sehr beunruhigende Theorie, die eingehender Untersuchung bedarf. Daher hat das Gericht eine Anhörung angeordnet, um Wahrheit und Tragweite von Rechtsanwältin Rubios Behauptungen zu überprüfen. Rechtsanwältin Rubio sollte vor Gericht aussagen und von der Staatsanwaltschaft ins Kreuzverhör genommen werden.
Das Anwaltsgeheimnis, das vormals zwischen ihr und Mr. Bantling existierte, wäre damit aufgehoben.
Das faktische Problem des Gerichts ist folgendes: Zwischen dem Zeitpunkt, als Mr. Bantling seinen Antrag nach Paragraph 3.850 einreichte, und der angesetzten Anhörung ist die Rechtsanwältin Rubio verstorben. Rechtlich gesehen ist sie als Zeugin nicht mehr verfügbar. Dazu kommt, dass der Officer, dessen Aussage und Motive sie in Frage stellt, ebenfalls verstorben ist. Seine Aussage vor dem Gericht während Mr. Bantlings Prozess ist als Beweismittel in dieser Anhörung zulässig und als beeidete Zeugenaussage wäre sie das auch in einer Neuverhandlung. Das Tonband, das beide Gründe für den Antrag des Angeklagten stützt, kann weder von der Verteidigung noch von der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden, da die Polizei von Miami Beach routinemäßig alle Bänder nach dreißig Tagen löscht.
Das juristische Problem des Gerichts ist folgendes: Die Behauptungen von Rechtsanwältin Rubio sind ernst zu nehmen und beunruhigend und würden, sofern sie der Wahrheit entsprechen, eine Neuverhandlung rechtfertigen. Doch selbst wenn sie notariell beglaubigt ist, bleibt Ms. Rubios eidesstattliche Versicherung eine außergerichtliche Aussage. Das heißt, sie ist ein indirektes Beweismittel, das auf einer mündlichen Aussage beruht. Ms. Rubio steht als Zeugin nicht zur Verfügung und kann von der Staatsanwaltschaft nicht ins Kreuzverhör genommen werden, die Richtigkeit ihrer Aussage kann nicht überprüft und über ihre Glaubhaftigkeit kann vor Gericht nicht entschieden werden.
Die rechtliche Frage, über die wir mit der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung also heute Morgen verhandelt haben, ist die: Sind indirekte Beweismittel, die auf mündlichen Aussagen beruhen, bei der Beweisaufnahme eines Antrags auf Wiederaufnahme und Neuverhandlung in einem Fall zulässig, in welchem dem Angeklagten die Todesstrafe droht?»
Der Richter schwieg. Die Atmosphäre im Gerichtssaal war zum Zerreißen gespannt. Er ließ den Blick noch einmal über seine Untertanen schweifen, betrachtete die Kameras, die auf ihn gerichtet waren, als würde er ein letztes Mal die Worte abwä-gen, die er gleich sprechen würde. Bevor er sich mit gerunzelter Stirn wieder seinen Aufzeichnungen zuwandte, richtete er den Blick für einen kurzen Moment nicht auf die Kameras, nicht auf den Angeklagten, sondern auf die Bank der Staatsanwaltschaft. Er sah C. J. an. Sein Blick währte nur einen Moment, doch seine Wirkung war vernichtend. Er stellte sie bloß, enthob sie ihres Status als Staatsanwältin, als geschätzte Kollegin der Major Crimes Unit. Er strafte sie mit seiner Verachtung. Für das, was sie getan hatte, für das, was er ihretwegen tun musste.
«Die Zulassung von Beweismitteln in einem Be-rufungsverfahren obliegt einzig und allein dem Ermessen des Gerichts. Das Gesetz kennt keine Ausnahme, die Ms. Rubios eidesstattliche Versicherung als rechtserhebliches Beweismittel zulässt. Das Tonband kann nicht vorgelegt werden, und damit existiert es vor dem Gesetz nicht. Dem Gericht bleiben nur die gerichtliche Zeugenaussage von Officer Victor Chavez und dieselbe Sachlage, die bereits in der Verhandlung des letzten
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