Morpheus #2
Lektüre fort. Wenn Kapitalverbrechen vor dem Obersten Gericht verhandelt wurden, beschränkten die Kommentare sich auch nicht auf zwei Seiten, sondern es waren zwanzig, dreißig, vierzig Seiten, auf denen vielschichtige, komplizierte Aspekte abgehandelt wurden.
Chaskel war klar gewesen, dass die Präzedenzfälle, die er zusätzlich herausgezogen hatte, dieselben wären, die auch von der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft zitiert würden. Auch sie saßen wahrscheinlich die ganze Nacht an ihren Computern und recherchierten – die eine Partei, um den Zug anzuhalten, die andere, um ihm Dampf zu machen –, und als Richter wollte er vorbereitet sein. Er wusste, das Ganze würde so oder so in Revision gehen.
Und er hatte Recht behalten. Am Morgen hagel-ten im Saal die Argumente, und die verdammte Journaille lag auf der Lauer mit ihren Kameras und Mikrophonen. Und so war er trotz seiner Erschöp-fung froh gewesen, dass er die Nacht durchgearbei-tet hatte.
Verflucht. Richter Chaskel warf die Lesebrille auf den Tisch und rieb sich die Augen. In Anbetracht des Medienrummels hatte er einen der saubersten Prozesse geführt, die je in diesem Gerichtsgebäude abgehalten wurden, hatte er zumindest geglaubt.
Zügig. Intelligent. Überlegt. Er hatte sich nicht von den Medien anstiften lassen, das Ganze zu einem Marathon oder einer schlechten Fernsehserie aus-zuwalzen, nur damit sein Gesicht in der Presse war, wie es manche Kollegen machten.
Der Angeklagte war problematisch gewesen, doch auch das hatte er gelöst, er hatte kein Thea-ter, keinen Krawall geduldet, und die Berufungsge-richte hatten sich längst auf seine Seite gestellt. Er hatte Bantlings ersten Antrag auf Neuverhandlung, seine erste Berufung, selbst bearbeitet, hatte alle Fragen mit knappen, wasserdichten Antworten zum Schweigen gebracht, und wieder hatten ihm die Be-rufungsgerichte zugestimmt. Und jetzt, als das Ende nahe war, als die Tücher endlich im Trockenen waren, jetzt stellte sich heraus, dass man den Prozess womöglich manipuliert hatte. Dass im Gerichtssaal getrickst worden war von ebenjenen Menschen, auf deren Integrität er sich verlassen hatte.
Elf tote Frauen. Selbst wenn das Gesetz aus abstrakten Paragraphen bestand, ging es hier um Leben um Tod. Das war das Frustrierende an seinem Job. Im Kleingedruckten stand nichts davon, dass es sich um Menschenleben handelte. Es war leicht, die Dinge in Ziffern und Daten zu benennen, wenn man kein Gesicht im Zeugenstand sah, das einen in der Erwartung anblickte, dass Gerechtigkeit gesprochen wurde. Denn Recht, wie es das Gesetz verlangte, und Gerechtigkeit waren zweierlei. Wie konnte er die elf toten Frauen aus seinem Gedächtnis streichen, die brutalen Details der Morde, die ihm noch so frisch in Erinnerung waren, das herz-zerreißende Schluchzen der Mütter im Gerichtssaal, als der Gerichtsmediziner Tag für Tag neue schreckliche Tatsachen enthüllte? Es war schwer, einfach darüber hinwegzusehen und zu den Rechts-fragen überzugehen, ohne über die Namen zu stol-pern, die jungen Gesichter, die jetzt nur noch Wörter in einem Berufungsantrag waren.
Wenn er Lourdes Rubios eidesstattliche Versicherung als Beweismittel zuließ, müsste er dem Antrag auf Neuverhandlung stattgeben. Die Fakten waren eindeutig, und wenn er das Schriftstück ein-
mal veröffentlicht hatte – wenn es als rechtmäßiges Beweisstück in die Akte einging –, dann musste er auf den Inhalt reagieren. Und das Berufungsgericht ebenfalls. Und das hätte Konsequenzen. Der Wider-ruf des Prado-Urteils würde die anderen zehn Schuldsprüche mit sich reißen, das wusste Chaskel.
Es gäbe einen neuen Prozess, und dessen Ausgang wäre sehr viel unvorhersehbarer als beim ersten Mal.
Wenn er die eidesstattliche Versicherung jedoch nicht gelten ließ, wäre der Fall, zumindest solange der Angeklagte keinen «Amtsmissbrauch des Pro-zessgerichts» nachweisen konnte – ein fast unmöglicher juristischer Salto –, für immer erledigt.
In anderen Worten, alles lag allein in seinen Händen.
Ungeachtet Lourdes Rubios Versuch, ihren ehemaligen Mandanten in letzter Minute zu retten, war Richter Chaskel damals selbst im Gerichtssaal gewesen, er hatte die Beweise gesehen, und er hatte keinen Zweifel an Bantlings Schuld. Das machte es ja so verflucht frustrierend. Selbst wenn alles stimmte, was sie in ihrer Erklärung sagte, wenn die Fahrzeugdurchsuchung auf einen «faulen» Tipp zurückging – einen Hinweis, der bei wortwörtlicher Ausle-gung
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