Morpheus #2
Sprecher verrenkten sich die Köpfe, um für die Zuschauer in New York und L. A. einen besseren Blick auf die Liveshow zu ergattern. Die Folge war, dass die Pendler, wenn sie Glück hatten, zwei Stunden in die Innenstadt brauchten. Die weniger Glücklichen wurden in einen der zahlreichen Auffahrunfälle verwickelt, die von hirnlosen Gaffern produziert wurden; der Dauerregen trug sein Übri-ges zum allgemeinen Chaos bei.
Der Regen hatte auch jede Hoffnung zunichte gemacht, auf dem Parkplatz und in der Umgebung noch Spuren zu finden. Verschwunden waren Rei-fenspuren, Fußabdrücke, Blutspuren. Haare, Textilfasern oder Hautschuppen mit DNA, die normalerweise immer irgendwo zurückblieben – an einem Ast, einer Zigarette oder einem alten Kaugummi –, all das hatten die heftigen Gewitter unwiederbring-lich weggespült.
Der Gerichtsmediziner war da gewesen und hatte Angelillos Leiche um 8.30 Uhr in Begleitung mehrerer Vans schließlich ins Leichenschauhaus gebracht. Auf dem Parkplatz drängten sich den ganzen Tag Polizisten und Streifenwagen. Das gelbe Flatterband wirkte wie eine Partydekoration am Morgen danach – zu Boden gedrückt vom Regen und zertrampelt von den Ermittlern.
Ein Polizist der Highway Patrol hatte den Streifenwagen am Morgen um 4.45 Uhr entdeckt. Er war mehrmals dort vorbeigefahren, und dabei war ihm der Streifenwagen des MDPD aufgefallen, der seit Stunden mit laufendem Motor auf dem Parkplatz stand. Mit dem Vorsatz, dem Kollegen den Marsch zu blasen, der da ein Nickerchen hielt, während er selbst auf dem Turnpike Patrouille fuhr, hatte er im strömenden Regen die Fahrertür aufgerissen. Dominick schätzte, der Mann würde trotz seiner zwanzig Dienstjahre noch heute Abend seinen Renten-antrag stellen.
Um zehn Uhr war eine Pressekonferenz angesetzt. Beim MDPD, MBPD, FDLE, bei der Highway Patrol und praktisch jedem anderen Polizeirevier in Miami – das vierundzwanzigköpfige Surfside P.D.
mit eingeschlossen –, überall versuchte man die Ängste der Bürger mit vorläufigen Ermittlungsbe-richten und den Sicherheitsmaßnahmen, die ergriffen würden, zu beruhigen. Dabei wurden Fakten falsch weitergegeben oder, schlimmer noch, ge-treue Fakten drangen detailliert an die Öffentlichkeit. Das Ergebnis war katastrophal. Die Leitungen aller Departments liefen heiß mit den Anrufen besorgter Bürger, kaum dass sich die Gerüchte ver-breiteten. Sind Terroristen am Werk? Ist es ein Krieg zwischen Gangs? Geht ein Serienmörder um?
Und die Anzeigen verdächtiger Personen nahmen kein Ende – jeder fühlte sich verpflichtet, den seltsamen Nachbarn mit dem bellenden Hund zu melden oder den Kollegen, der sich mit glänzenden Augen beim Lunch ereifert hatte, alle Polizisten seien Arschlöcher, nur weil er einen Strafzettel bekommen hatte.
Mittags gingen dann die internen Kämpfe los. Ein Department beschuldigte das andere, nicht dicht-gehalten zu haben und gegen das ungeschriebene Gesetz der blauen Uniform zu verstoßen: Einer für alle, alle für einen. Das Chaos hielt Einzug. Zwei Dienststellen waren für zwei offensichtlich zusammenhängende Morde verantwortlich, und keine wollte seine Informationen mit der anderen teilen.
Und wie Dominick es vorhergesehen hatte, zog das Gerangel die unerwünschte Aufmerksamkeit eines noch größeren Raubtiers auf sich, das nur darauf wartete, sich die saftigsten Brocken zu schnappen, während der Rest sich gegenseitig den Schädel einschlug.
Der Anruf kam um kurz nach eins. Im schicken neuen Konferenzsaal reichte man Regional Director Black das Telefon mit der Information, am Apparat sei der leitende Special Agent des FBI in Miami, Mark Gracker. Während Gracker noch in der Warteschleife war, wurde Black von Fultons krächzen-der Stimme über das Nextel informiert, dass gerade ein paar Wagenladungen FBI-Agenten am Tatort aufkreuzten, die nachsehen wollten, ob es etwas für sie zu tun gab.
Im strömenden Regen stand eine blutjunge Journalistin vor dem Einkaufszentrum. Aufgeregt und mit betroffener Miene hielt sie vor der Kamera das Mikro fest umklammert. Sie versuchte, sich die Nervosität nicht anmerken zu lassen, aber während sie in farbigen Details das jüngste Werk eines Killers beschrieb, der offensichtlich einen Groll gegen Polizeibeamte hegte, geriet ihr irgendwie die Höhere-Töchter-Bildung in den Bericht. «Sind diese kaltblü-tigen Hinrichtungen wirklich die kalkulierte Vergeltung rachsüchtiger Gang-Mitglieder, wie man bei dem Mord in Miami Beach angenommen
Weitere Kostenlose Bücher