Morpheus #2
würden. Zwar war nicht sie, sondern ein Kollege der Major Crimes Unit an den grausigen Tatort hinter der Dolphin Mall beordert worden – kein Geringerer als der ehemalige Leiter der Abteilung für Bandenkriminalität –, aber es war C. J. die am Montagabend zu Hause vom Staatsanwalt persönlich einen Anruf erhielt.
Sehr zum Verdruss der Medien hatten die Departments so gegen Montagabend ihre Querelen vor laufender Kamera schließlich eingestellt. Auch wenn sie ihre Ermittlungsergebnisse nicht gern un-tereinander austauschten, waren sie sich darin einig, dass dem FBI zuzuarbeiten das größere der beiden Übel war. C. J. wusste, dass das nicht an der mangelnden Effizienz der Bundesbehörde lag.
Das FBI verfügte über große Ressourcen und mo-dernste Technik, und in einem so wichtigen, schlag-zeilenträchtigen Fall würde man gewiss nicht zögern, die örtlichen Behörden mit allen Mitteln zu unterstützen. Doch das FBI hatte den nicht unverdienten Ruf, sich gern mit fremden Federn zu schmücken und gleichzeitig alles Unangenehme auf andere Behörden abzuwälzen, und so verzichteten die regionalen Dienststellen gern auf deren Geld und Arbeitskräfte, und die Polizeichefs beschlossen, mit vereinten Kräften vorzugehen. Um elf Uhr abends fand die gemeinsame Presseerklärung von FDLE, Miami Beach P.D. und Miami-Dade P.D.
statt. Auf dem Podium des Konferenzsaals wurden sie von Polizeichefs aus dem ganzen Land unterstützt. Sie präsentierten eine geschlossene Front, und jeder nickte feierlich, als das FDLE auf Anordnung des Gouverneurs die Zusammenstellung einer abteilungsübergreifenden Task-Force ankündigte, die ihr Basislager im MROC aufschlagen würde. Auf dem rechten Rand des Podiums saß Jerry Tigler, der Oberstaatsanwalt, C. J.s Boss. Als er das Wort erhielt, sagte er den versammelten Polizeidienst-stellen und der Öffentlichkeit die volle Unterstützung durch die Staatsanwaltschaft zu.
Zehn Minuten später klingelte C. J.s Telefon.
Sie war eine der besten ihres Fachs. Sie hatte Task-Force-Erfahrung, war im Cupido-Fall von Anfang an dabei gewesen, ein Jahr bevor es überhaupt einen Verdächtigen gab. Außerdem genoss sie den Respekt der gesamten Polizeibehörde, vor allem auch den der Morddezernate. Sie hatte mit Serientätern und Ritualmorden zu tun gehabt, falls sich diese Erfahrungen als nötig erweisen sollten.
Es war C. J. die Tigler mit der Task-Force betrauen wollte. Er wusste, durch welche Hölle sie persönlich während des Cupido-Falls gegangen war. Nur deshalb klangen seine Worte jetzt wie eine Bitte, nicht wie ein Befehl. C. J. antwortete, sie habe am nächsten Morgen einen Prozessbeginn und werde ihm im Anschluss ihre Entscheidung mitteilen.
Jetzt war der Morgen da, und sie hatte sich entschieden. Hastig deckte sie den Aktenwagen mit einer Plastikfolie ab, die nach den letzten Malerar-beiten liegen geblieben war. Dann griff sie nach ihrem Schirm und öffnete die Tür.
Sie fühlte sich solidarisch mit den Polizeibeam-
ten. Nicht nur wegen Dominick, sondern wegen der Arbeit, die sie jeden Tag verrichtete. Was sie oft nur auf schaurigen Tatortfotos sah, mussten die Polizisten aus erster Hand erleben. Der Erste vor Ort, der bei einer wilden Prügelei dazwischengeht, der eine Frau vor einem Schläger rettet, ein missbrauchtes Kind in Sicherheit bringt. Der Erste, der das Blutbad sieht, wenn ein Normalbürger Amok läuft, wenn ein depressiver Vater zum Henker wird oder ein Kollege Rache übt. Sie hatte enormen Respekt für Polizisten und für die Tapferkeit, die sie bewiesen, indem sie sich Tag für Tag bereit erklärten, sich notfalls schützend vor einen vollkommen Fremden zu stellen, wenn auf den geschossen wurde.
Ankläger und Polizisten verfolgten das gleiche Ziel – Gerechtigkeit. In den meisten Fällen hatte C.
J. es inzwischen mit den besten Ermittlern in Miami zu tun, Fehler kamen selten vor. Im Lauf der Zeit waren die Kriminalbeamten, mit denen sie zusammenarbeitete, Vertraute, ja beinahe Freunde geworden. C. J. wusste von ihren Problemen zu Hause, kannte die Namen ihrer Kinder, war im Bilde, welche Feiern anstanden und welche Familientra-gödien abliefen. Und sie verstand, wie schwer die Verantwortung wog, die sie Tag für Tag schweigend auf ihren Schultern trugen. Im Angesicht des Todes suchten diese Männer und Frauen immer unter Zeitdruck nach Antworten, denn der nächste Mord wartete bereits. Es war ein unaufhörlicher Kreislauf, und oft vergaß man dabei, dass es auf der Welt
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