Morphin
wäre, aber sie wusste: Baldur weint weder aus Angst noch aus Bedauern um seine verlorene Jugend, auch nicht aus Wut auf diesen furchtbaren Krieg, Baldur weint aus Hass auf seine, Deutschlands und des Kaisers Niederlage. Der Kaiser stand Baldur näher und war ihm teurer als der eigene Körper, Deutschland war ein Teil von Baldur, wie sein Arm oder seine Milz, nur viel wichtiger. Deutschland hatte eben so schändlich kapituliert, Baldur wusste nicht viel über die Lage Deutschlands, und was er wusste, verstand er nicht, denn schließlich war dein Vater Baldur, Kostek, nur ein dummer Kavallerieoffizier. Deshalb weinte er. Nicht aus Bedauern: Er weinte aus Hass. Er wollte kämpfen, wollte töten und konnte nicht.
Die Adlerin wusste das, und dieses Weinen riss sie mit, dieses Weinen beflügelte sie, und sie wollte, dass dieser entstellte, aber unbesiegte Mann sie besaß, wollte, dass er von der geheimen Energie ihres Leibes gesunde und erneut in den Kampf zog.
Er glaubte damals eine Zeitlang, Katherine Willemann liebe ihn wirklich, liebe ihn wahrhaftig und nur ihn, und dachte eine Zeitlang, dass ihrer Liebe nichts im Wege stehen könne, deshalb half er ihr, das hohe, viktorianische Kleid aufzuknöpfen.
Dann griff sie in seinen Schlafanzug und entdeckte eine Landschaft nach der Schlacht. Nach einer schrecklichen, seltsamen Schlacht.
Rittmeister Strachwitz wusste nicht, wer ihn bezwungen hatte. Lange wusste er nicht einmal, dass er bezwungen war. Er leistete unberitten Dienst als Infanterist, als Landser, ganz normal im Schützengraben. Keine Kavallerieattacken, die er mit dem Säbel zu führen gehabt hätte. Fernglas, die bösen Blicke der Soldaten, Nässe. Gerede über Fotzen, Ärsche, Titten. Schnaps. Las Gedichte, Rilke, Verlaine auf Französisch, William Blake, von dem er nicht viel oder gar nichts verstand. Las die Briefe von zu Hause, von denen er auch nicht viel verstand. Las die Tagesbefehle, von denen er ganz bestimmt nichts verstand. Und eines Tages setzte er seinen Helm auf und verließ den Unterstand, um durch einen im Zickzack verlaufenden, langen Graben zu einem vorgeschobenen Posten zu gehen.
Der, der Strachwitz bezwang, Kanonenschütze Spivet, aufgewachsen in den Slums von London, die widerhallten von den lärmenden Prügeleien der Betrunkenen, wusste ebenfalls nicht, dass er irgendjemanden bezwingen würde, als er das Geschoss in der Acht-Zoll-Haubitze zündete, die erste Salve der Artillerie-Vorbereitung. Auch der Artilleriebeobachter wusste es nicht, als er dann durchs Feldtelefon die Korrektur meldete, der Batterieführer wusste es nicht, nicht der Fahrer des Raupenschleppers Marke Holt, der die Haubitze auf ihre Kampfposition zog, überhaupt wusste niemand von dieser Niederlage und diesem Sieg, das Geschoss Kaliber 203 Millimeter fuhr aus dem Lauf, flog seine fünf Meilen weit, schlug wie vorgesehen auf und explodierte bestimmungsgemäß. Der Luftzug riss den mageren Ulanenoffizier aus dem brettergeschützten Graben und schleuderte ihn in die Höhe, ein kleiner Teil dieses Geschosses riss ihm den Stahlhelm ab und raubte ihm Bewusstsein und Gesicht. Die Schwerkraft ließ den knabenhaften Leib in der grauen Uniform unsanft in den Stacheldraht fallen, wo er in ziemlich drastischer Pose hängenblieb. Wäre ein Fotograf in der Nähe gewesen, um Baldurs Körper zu verewigen, ein talentierter Bildermacher wie Endre Friedmann, bekannt als Robert Capa, nur eine Generation älter als dieser, dann hätte dieses Foto noch Jahre später die Grauen des Krieges veranschaulichen können: der hagere, graue Ulan, aufgespannt im Stacheldraht wie eine weggeworfene Marionette, das helle Haar von Blut verschmiert, die Arme ausgebreitet und das Halfter mit der Pistole wie ein Symbol: «Wer mit dem Schwert auszieht …» Aber da war kein Fotograf. So verlor Baldur sein Gesicht, ohne Ruhm zu erringen.
Und das war noch nicht das Ende dieser Niederlage, denn kurz darauf fiel ein Brocken weißen Phosphors auf Baldurs bewusstlosen Leib. Viele solcher Brocken gingen in der Gegend nieder. Dieser fiel und klebte an Bauch und im Schritt fest, ohne Baldur zu wecken, brennend, und dieser Niemandssieg über einen seiner Niederlage Unbewussten wäre endgültig gewesen, wenn nicht ein aus Posen gebürtiger Sanitätssoldat rechtzeitig zu Strachwitz gekommen wäre und ihm unnötigerweise das Leben gerettet hätte, wofür Baldur ihm nie dankbar war: weder damals, als er ohne Bewusstsein da hing und Dankbarkeit nicht empfinden
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