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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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schüttelt mich.
    Nicht das Adrenalin schüttelt dich, nicht nur das Adrenalin. Ich schüttele dich, damit du zu dir kommst und der wirst, den ich liebe, damit du wieder ein starker, machtvoller Mann wirst, so einer, wie du sein solltest. So einer, wie du nicht bist.
    Ich glühe vor Wut, die Wut pulsiert in mir. Aber ich werde ja jetzt nicht reingehen und den alten Peszkowski um Verzeihung bitten und erklären, wer ich in Wirklichkeit bin, genauso wenig werde ich ihn verprügeln und mein Recht durchsetzen.
    Und plötzlich schaudere ich vor Entsetzen, weil ich weiß, dass ich genau das tun könnte, dass meine Wut mich dazu treiben und hinreißen könnte.
    Ich stoße Hela weg, rappele mich auf, wische mit dem Taschentuch das Blut von der Nase, laufe auf die Straße und weiter, falle natürlich sofort auf mit dem Blut, wie auf Flügeln durch die Miodowa und ihre zitternden Ruinen, das Bischofspalais, Teppers Palais, die zerbombten, niedergebrannten Mietshäuser an der Senatorska, der Theaterplatz, Bogusławski auf seinem Sockel im albernen Frack, traurig und armselig, die Oaza geschlossen, keine Steaks mehr im Grill Room, ich laufe die ganze Zeit, die Leute starren mich an wie einen Irren, ein Polizist in blauer Uniform pfeift, ich höre nicht, laufe weiter, und er hat keine Lust, mir nachzurennen, da bin ich schon, die Fredro, das Wawelberg-Haus und der Deutsche Klub.
    Gut, Kostek, gut, du bist ein Drache. Lebe wie ein Drache. Lebe wie ein Tiger. Gut.
    Der Flur leer, keine Anwärter auf das Deutschsein. Vielleicht bin ich außerhalb der Bürozeiten gekommen. Im Sessel schlummert schnarchend ein mickriges Männchen in zerschlissenem Anzug, mit nagelneuer, feuerroter Armbinde, das heidnische Hakenkreuz im weißen Kreis.
    «Entschuldigung …» Ich tippe auf seinen Arm.
    «Natürlich, Herr Professor, natürlich», sagt er auf Polnisch zu seinem eigenen Traum und ist gleich darauf wach, verlegen, wischt sich die Äuglein am zerknitterten Ärmel, sieht mich endlich.
    «Wo finde ich Frau Willemann?», frage ich auf Polnisch.
    «Die Treppe, erster Stock, dort sind die Büros.»
    Ich gehe rein. Du gehst rein, glaubst sogar, vom Treppensteigen und der Annäherung an deine Mutter würde dir die Wut vergehen, das tut sie aber nicht. Du denkst, du würdest einen Rückzieher machen, du tust es nicht. Ohne anzuklopfen, gehst du rein. Armer Kerl.
    Meine Mutter hinter dem Schreibtisch. In der linken Hand eine Zigarette, in der rechten einen Füller, sie trägt etwas in Tabellen ein. Am Fenster, mit dem Rücken zu dir, steht ein großer, wuchtiger Mann im schwarzen Stresemann.
    «Mutter, ich brauche … sie …», stößt du wirr hervor. Sie hebt den Blick von ihren Papieren.
    «Konstanty. Geh raus, schließ die Tür und komm noch mal rein, so wie es sich gehört.»
    Die Adlerin zischelt reptilienhaft, steif der Stift der Zunge zwischen den scharfen Schnabelrändern. Die Adlerin schlägt mit den Flügeln, die furchtbaren Klauen zerren an dem Stoff, mit dem die Schreibtischplatte bespannt ist. Der Tiger legt die Ohren an und zieht sich langsam zurück, schlappt mit dem Schwanz gegen Fußboden und Türrahmen; der Drache kriecht zwischen den Tigerpfoten hinterher, seine Schuppen scheuern am rötlichen Fell – du gehst raus.
    Du schließt die Tür hinter dir, gehorsam, wischst dir das Blut aus dem Gesicht, bringst deine Kleidung in Ordnung, anschließend klopfst du.
    «Herein», hörst du die Stimme deiner Mutter.
    Du trittst ein, als führte sie dich mit dieser Stimme an der Leine. Tiger und Drache bleiben draußen. Du verbeugst dich ordentlich.
    «Erlauben Sie, dass ich vorstelle: mein Sohn Konstantin», sagt deine Mutter ganz förmlich.
    Den Mann am Fenster hast du schon einmal gesehen. Deine Mutter stellt ihn dir natürlich nicht vor, ausgeschlossen, das ist eine bedeutende Persönlichkeit.
    Du verbeugst dich ziemlich tief. Der stattliche, finstere Mann tritt auf dich zu und reicht dir die Hand.
    «Ich habe viel von Ihnen gehört.»
    Da aus dieser Situation eindeutig hervorgeht, dass auch du von deinem Gegenüber gehört haben müsstest, erwiderst du nichts dergleichen … Und siehst plötzlich, dass ihm dieses widerliche Theater deiner Mutter, diese Abkanzelung eines erwachsenen Mannes in Gegenwart von Fremden, äußerst unangenehm ist. Dir ist es ohnehin unangenehm. Du würdest gern einen Draht der Verständigung zu diesem stattlichen Mann finden, schon deshalb, weil ihm das Verhalten deiner Mutter ebenso peinlich ist wie dir.

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