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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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konnte, noch später, als er sein Bewusstsein wiedererlangte und zu Dankbarkeit umso weniger fähig war, fähig nur zum Schreien, noch sehr viel später, als er nicht mehr schrie und fähig war nur noch zum Hassen.
    Der Sanitäter kannte sich mit weißem Phosphor aus: Er kratzte ihn mit der Schneide seines langen Bajonetts von Baldur ab. Löste den Rittmeister aus dem Stacheldraht und trug ihn ins Hinterland, es war eine weite Reise. Im Lazarett rettete ein Stabsarzt namens Zweig Baldurs Leben. Zuerst nahm er sich – so gut er konnte – des Gesichts an. Hätte das ein Facharzt für die damals noch nicht so genannte plastische Chirurgie getan, Strachwitzs Kopf wäre nicht so schrecklich deformiert geblieben; doch solche Spezialisten gab es im ganzen Reich nur wenige, und keiner von ihnen befand sich im Feldlazarett an der Westfront, weil sie Besseres zu tun hatten, als sich um die Westfront zu kümmern. Von der Ostfront ganz zu schweigen.
    Als Zweig den Kopf für versorgt befand, widmete er sich eine Weile anderen Verwundeten. Dann kehrte er zu Baldur zurück und befasste sich mit den Verbrennungen dritten Grades am Bauch und zwischen den Beinen – was keineswegs den Regeln der Kunst entsprach, denn ein Gesicht heilt schnell, Verletzungen im Schritt dagegen ganz schlecht, sie hätten daher als Erstes versorgt werden müssen. Zweig aber war kein guter Arzt. Er entfernte das zum Teil verbrannte Gewebe und versorgte und reinigte mit Unterstützung eines schlechtgelaunten Sanitäters die übrigen Verbrennungen. Er machte sich keine Gedanken, wie bedeutend für Strachwitz der Verlust seines Gliedes sein würde, bei solchen Gedanken hätte ihn nicht einmal der Schnaps vor dem ohnehin stets drohenden Irrewerden bewahrt. Drei Sekunden lang fragte er sich, ob der Penis noch zu retten sei, genau, wie er es bei jedem anderen nützlichen Körperteil getan hätte – verneinte für sich die Frage, amputierte deshalb am Rumpf, stülpte ein Stück Harnröhre nach außen und empfand die nächsten zwei Sekunden sogar etwas wie Stolz über die Geschicklichkeit und Präzision, mit der er diese gewiss nicht einfache Operation durchgeführt hatte.
    «Schade eigentlich um den Schwanz, aber einen Krüppel mit so einer Fresse würde nicht mal ne jüdische Nutte für viel Geld nehmen», scherzte fröhlich der Posener Sanitätssoldat, der die Deutschen hasste und sich immer freute, wenn einem von ihnen ein Leid geschah, denn er selbst hatte einige Erniedrigungen von ihnen erfahren. Der Stabsarzt konnte kein Polnisch, deshalb musste der Sanitäter allein über seinen Witz lachen. Lang konnte er das nicht mehr, denn zwei Stunden später erschossen ihn die Engländer mit dem Maschinengewehr, wenigstens starb er gut gelaunt. Zweig hätte bestimmt über den Witz des Sanitätssoldaten gelacht, denn obwohl er selbst Jude war, hatte er für jüdische Nutten nichts übrig, sie hatten ein zu freches Maul, er zog die unterwürfigeren Slawinnen vor. In den dreißiger Jahren ging er nach New York, kam dort zu Geld und heiratete eine graue Ukrainern, zeugte einen kleinen, grauen Ukrainerjuden, fing an zu saufen, die Familie zu schlagen und starb dann, weil seine Frau ihn mit Arsen vergiftete, unfähig, die häusliche Gewalt länger zu ertragen. Doch was hat diese Geschichte mit dir zu tun, Kostek, außer dem Glied, mit dem du neun Jahre zuvor gezeugt warst und das dein Vater nun einbüßte?
    Nichts. Niemals danach kreuzte deinen Weg irgendwer, der etwas mit Stabsarzt Zweig zu tun gehabt hätte oder mit seiner ukrainischen Frau oder dem Sohn oder mit dem Posener Sanitäter, dessen Namen zu erwähnen mir die Lust fehlt. Nichts also, außer der Geschlechtsamputation von Rittmeister Baldur Strachwitz. Und doch alles: Denn sie alle und du und dein Vater und alle Menschen und die Leben eurer Vorfahren und Affenmenschen und Nachkommen, alle bildet ihr ein Mosaik aus kleinen, bunten Steinchen, und niemand, nicht einmal ich, steht weit genug über diesem Mosaik, um es ganz zu erfassen, seinen Rhythmus, seine Ordnung und Schönheit. Niemand, oder fast niemand.
    Denn irgendeine Ordnung, einen Rhythmus und eine daraus hervorgehende Schönheit muss es in diesem unendlichen Kunstwerk zweifellos geben.
    Der versehrte Penis, der dich, mein Mosaiksteinchen, mit jenen anderen Steinchen verband, ruhte in einem Kübel mit diversen Teilen anderer Menschen, lebenden oder toten: Dort waren die Hände von zwei Feldwebeln, die ohnehin unter dem Messer weggestorben waren;

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