Morphin
dort war das Bein eines Infanteriehauptmanns, der Unterkiefer des Landsers Mazur, die Finger eines dummen Hannoveraners, der mit einer Granate gespielt hatte und dem man die zerfetzten Finger dann amputieren musste, es gab einige Füße, zwei davon in Schuhen, und ganz oben fand das gegarte Glied von Baldur Strachwitz Platz, das keine Frau kannte außer deiner Mutter. Den ganzen Krieg war er nicht einmal ins Bordell gegangen, hatte keine einzige Geliebte genossen, seine körperliche Lust am Abort selbst befriedigt und, wie er glaubte, seine Reinheit für Katherine bewahrt, für Katherine, die Frau, in der er sich auflöste, in der er lebte, für die Frau, ohne die er nicht existierte.
Baldur spürte nichts während der nächsten paar Tage, die es dauerte, bis er wieder zu sich kam. Danach heulte er zwei Wochen vor Schmerz, wenn er nicht vom Morphin betäubt war und sich nicht klarmachte, dass er keinen Penis mehr hatte.
Dann machte er es sich klar und wusste lange nicht, was er davon halten sollte. Er lag im Lazarett und dachte an Selbstmord, den Deutschen drohte die Niederlage, sie verloren den Krieg, und der Kaiser dankte ab, was Baldur mehr bedrückte als der Verlust des Gliedes, doch im Brief nach Hause traute er sich nicht, davon zu schreiben, später kehrte er heim und rechnete damit, dass seine Katherine ihn verstehen würde.
Als sie sich an sein Bett setzte, half er ihr, das viktorianische Kleid zu öffnen, und sie griff zwischen seine Beine und fand ein Schlachtfeld.
Als sie verstanden hatte, dass er sie nie mehr besitzen würde, war er für sie kein Mann mehr. Und als er kein Mann mehr für sie war, begriff sie, dass Deutschland den Krieg verloren hatte, dass Baldur den Krieg verloren hatte und das Leben, ein Eunuchenkrüppel, so sah sie ihn, auch wenn dem Hodensack mitsamt Hoden das Schicksal des Glieds erspart geblieben war. Bald zuckten furchtbare Regungen durch Baldurs geschwächten Organismus, die ihn erinnerten, schmerzlich erinnerten, dass er einmal ein Mann gewesen war: Er hatte Phantomerektionen.
Doch diese vermochten Katherine nicht zu überzeugen: Da er sie nicht unterwerfen, nicht in sie eindringen und sie beherrschen konnte, war er kein Mann mehr. Er hatte für sie keinen Zweck mehr, war mehr als tot, denn das Gedächtnis eines Toten hätte sie ehren können. Er war besiegt und widerlich. Also stand sie einfach vom Bett ihres ehemaligen Ehemannes auf, knöpfte das Kleid sehr sorgfältig zu und sagte ganz ohne Hass, er könnte noch eine Weile bleiben, aber sobald er sich erholt hätte, solle er verschwinden, und von diesem Moment an sah und sprach sie ihn kein einziges Mal mehr an, abgesehen von den impertinenten Abschiedsworten zwei Wochen später, als er sich von Kostek verabschieden wollte. Was soll man zu einer Leiche reden? Um den genesenden Baldur kümmerte sich fortan ein Dienstmädchen, Kostek hatte keinen Zutritt zu seiner Schlafkammer.
Und jetzt stehst du vor ihr, Kostek, und sie flattert mit den Flügeln. Die schmale, harte Zunge im scharfen Schnabel.
«Gendarmen kannst du haben», zischt sie.
Goldene Klauen umklammern das schwarze Bakelit, sie krächzt in den Hörer, meine Mutter, mein Fluch, meine Geburt in ihr und mein Tod in ihr.
«Jetzt geh», sagt sie. «Warte draußen, bis sie kommen.»
Ich gehe raus, guter Gott, die schwarzen Götter fürchten mich, als ich vor der neuen, modernistischen Fassade des Brühl’schen Palais stehe. Auf dem Hof des Palais hatte ich nach der Kapitulation Haufen besiegter MG s gesehen, alle diese fettglänzenden Stahlleiber richteten ihre Zyklopenaugen in eine Richtung. Und Panzerwagen standen dort und Stapel von unseren Mauser und Sättel, viele Sättel, Sättel von unserem Regiment.
Und jetzt, was jetzt, was weiter?
Du hättest auf dem Pflaster niederknien wollen, auf den Steinen der Fredrostraße und weinen, Kostek, über dich selbst, über dein zerschlagenes Maul und die blau angelaufenen Rippen, über dein Leben, über die Septemberniederlage, über das Pferd, das die Deutschen dir weggenommen haben und das du liebgewonnen hattest im Laufe dieses Monats, da es dich trug, und jetzt trägt es einen Deutschen. Und Leib und Seele, die die Deutschen dir weggenommen haben, würdest du auch gern beweinen, aber das tust du nicht, denn irgendwo dort hinter einem der Fenster sitzt deine Mutter und beobachtet dich mit Adleraugen, beaufsichtigt, verfolgt dich.
Ich stehe da, die Hände in den Taschen, ich werde eine rauchen, also die
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