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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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gehen – und dann? Was dann?
    Dann wird das passieren, wozu die Situation sich neigt, denn nicht du wirst entscheiden, Kostek, sondern die Schwerkraft der Situation.
    Also steigt ihr die Treppen hoch. Du als Erster, die beiden als Zweiter und Dritter, die Reihenfolge ist wichtig. Ihr bleibt stehen vor der Tür, aus der du so schmachvoll geworfen wurdest. Du willst das nicht tun, aber um es nicht zu tun, müsstest du jetzt den Gendarmen sagen, dass sie vergeblich mitgekommen sind, sich vergeblich bemüht haben, wozu du natürlich alles Recht hättest, nicht aber die Kraft, ihre Blicke zu ertragen, die schwer würden, du müsstest stark genug sein, diese Blicke auszuhalten, und hattest du jemals diese Kraft?
    Im Krieg, ja. Mit der Pistole in der Hand hast du geschrien: «Oberulan Bociąga in die Stellung!», der Gewehrschütze Hajke lebte nicht mehr und Richtschütze Oberulan Bociąga, obwohl unter direktem Feuer liegend, rutschte langsam die Trümmerhalde hinunter, zum Leben, zur Sicherheit, aber du brülltest: «In die Stellung!», und er kraxelte zurück, in den Tod, zum Maschinengewehr Baujahr  28 , und du brülltest erneut: «Kurze Feuerstöße!», der ganze Zug sah dich hasserfüllt an, schicktest da einen Mann in den sicheren Tod, und er begann zu schießen, blindlings natürlich, aber zu schießen, eingezogen der Kopf im französischen Helm, dann bekam er einen Stirnschuss und Schluss, das Gehirn pladderte ihm über die Schultern, und er veränderte nicht einmal seine Position, erstarrte nur, die durchschlagene Stirn auf dem Unterarm, das war’s dann mit dem Oberulan Bociąga, Zielschütze am Maschinengewehr.
    Damals konntest du dir das leisten. Das Leben des Oberulans Bociąga zu opfern. Für wen dieses Opfer, für Polen? Polen hat nichts davon gehabt, dass der Oberulan Bociąga noch einige Geschosse auf die deutsche Stellung abgefeuert hat. Dieses Opfer des Oberulans Bociąga hast du dem Kriege gebracht.
    Damals konnte ich mir das leisten. Die Adlerin war fern, ich hatte Uniform und Dienstgrad.
    Heute bin ich ein Niemand im verdreckten, zerrissenen Anzug, mit polierter Fresse. Und die beiden sind mir keineswegs bedingungslos ergeben, sind nur vorläufig gehorsam. Also klopfe ich und bete zu etwas, was nicht von dieser Welt ist. Bete darum, dass sie nicht aufmachen mögen. Keinen Ton von sich geben. Dass sie weggegangen sind, leer soll die Wohnung sein, und mir soll das erspart bleiben. Deshalb klopfe ich leise, blödsinnig leise.
    Und zähle in der Stille die Sekunden bis zu dem Moment, an dem ich auf Deutsch werde sagen können: «Sie sind nicht da, gehen wir.»
    Doch das kann nicht gutgehen, das geht nicht gut.
    Die Tür wird krachend auf Kettenweite aufgezogen. Peszkowski sieht zuerst mich und die Wut zieht ihm die Lippe hoch, verengt seine Augen wie bei einem tollwütigen Hund, erst dann sieht er die grauen Mäntel meiner Gendarmen, und die Wut weicht Entsetzen und Hilflosigkeit.
    «Du, du …», stottert er, «du Ratte …»
    «Ruhe!», raunzt wurstig der Gendarm und geht mit tänzelndem Schritt an mir vorbei, die leichte, ausführende Hand eines Willens, für den sie unschöne Pflichten erfüllt. Noch im Gehen reißt er am Riemen des Gewehres, es springt von der Schulter, als wäre es nicht von seiner Geschicklichkeit gelenkt, sondern wäre lebendig, dressiert und gehorsam.
    Peszkowski weicht zurück vor der bewaffneten Gestalt, erschrocken, doch noch erschrockener bin ich, ich sollte jetzt etwas tun, schließlich hat der Gendarm mir den Weg freigemacht, also sollte ich etwas tun, reingehen, rausgehen, Peszkowski aus Rache eins reinhauen oder ihn töten, eine noch grausamere Rache. Ob sie das zulassen würden, weiß ich nicht, aber ich könnte es probieren. Mir würde ja reichen, wenn Peszkowski mich respektiert, habe ich das nicht verdient? Hat jeder Respekt verdient, nur ich, Konstanty Willemann, nicht, was habe ich getan, wen habe ich verraten, und das so, dass ich mir den Respekt meiner Angehörigen für immer verspielt habe, warum?
    Der Gendarm hat mir den Weg über die Barrikade Peszkowski freigemacht und wendet mir sein helmbeschattetes Gesicht zu, bitte sehr, ich habe hier meine Aufgaben erfüllt, und jetzt du, Kostek, tu, was dir obliegt, tu das Niedrige, das Gemeine, was eines Menschen nicht würdig ist, eines Mannes, eines Polen, eines Deutschen, niemandes würdig, nur deiner würdig, Kostek.
    Und die Adlerin kreist über mir und wartet, wen sie verschlingen kann.
    Ich gehe rein.

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