Morphin
du?»
«Neun.»
Sie guckt mich an. Prüfend.
«Na, zeig mal, geh ins Licht …»
Sie kommt zu mir. Nackt unterm Schlafrock. Legt mir die Hand auf die Brust, wie eine zärtliche Geste, aber doch nur, um die Distanz zu wahren. Sie fasst meinen Unterkiefer mit zwei Fingern und wendet ihn hin und her, betrachtet mein Gesicht.
«Du könntest vierzig sein.»
Ich pruste los.
«Du siehst nicht alt aus für dein Alter», beschwichtigt sie, und ihre Stimme klingt anders. «Du siehst wie ein Mann aus. Männlich. Manche Männer verändern sich überhaupt nicht zwischen dreißig und fünfzig.»
Ob ich sie jetzt verführen kann? Oder verführt sie mich schon? Sie ist betrunken. Ich auch. Warum nicht? Ich will sie an den Hüften fassen, tu es, doch ehe die Geste ernst genug wird, entzieht sie sich, entwindet sich in tänzerischer Drehung, entfernt sich von mir.
«Und dieser Deutsche, dein Vater, welcher Jahrgang ist der?»
«Dreiundneunzig.»
Dzidzia runzelt die Brauen.
«Was denn, dann war er siebzehn, als er dich …? Das ist ja ein Ding. Sechsundvierzig. Geht doch. Siehst du ihm ähnlich?»
Also hat sie die Fotos im Ausweis noch nicht gesehen. «Weiß nicht», antworte ich.
Und jetzt wird sie hineinschauen, nachgucken. Wird alles sehen. Und danach werde ich keine Chance mehr haben, sie zu verführen. Angesichts dessen, was sie sehen wird, angesichts des Mannes, den sie sehen wird, werden meine Chancen gegen null gehen.
Dzidzia greift zum Ausweis, öffnet ihn.
«Oh Gott …»
Null. Ich zucke die Schultern.
«Das ist nicht alles, lies mal die Rubrik ‹besondere Merkmale›.»
Sie seufzt.
«Na, dann muss natürlich ein neues Foto her. Schwanzkontrolle werden sie wohl nicht machen», lacht sie.
Dieses Lachen verletzt mich ein bisschen, sie lacht darüber, dass mein Vater …
«Aber warte mal», Dzidzias vom Alkohol gebremstes Hirn bemerkt ein Problem, das auf der Hand liegt, «wie hat er dich denn …»
«Passierte im Krieg.»
«Ach. Na jedenfalls müssen die Orden wieder ran. Seine Geschichte ist deine. Du wirst er sein. Neue Fotos kann der Ingenieur machen.»
Ich setze mich in den Sessel. Schwer. Von Verführung keine Rede mehr.
«Ich glaube, ich leg mich hin. Habe Wodka mit ihm getrunken. Bin müde.»
«Du wirst er werden, verstehst du? Du wirst …», sie schaut in den Ausweis, «Baldur von Strachwitz sein.»
Ich stehe auf.
«Lass gut sein, Dzidzia. Ich gehe schlafen.»
Ich gehe, werfe mich aufs Bett, Helas und mein Bett, jetzt eher meins, werfe mich auf Helas Seite, schlafen.
Kapitel zehn
A ufstehen! Aufstehen, Herr von Strachwitz!»
Dzidzia. Dzidzia? Ich öffne die Augen. Sie über mir.
«Steh auf, ich habe alles vorbereitet.»
«Was vorbereitet?», frage ich, noch gar nicht richtig da.
«Alles. Zieh dich an.» Sie wirft mir Vaters Uniform zu.
Ich verstehe nichts.
«Die Fotos, wir machen Fotos. Zuerst in Uniform. Anziehen!»
Sie dreht sich um und geht raus, ich setze mich auf dem Bett auf.
«Schnell, schnell, wir haben keine Zeit!», ruft eine männliche Stimme aus dem Wohnzimmer. Der Fahrer. Witkowskis Fahrer.
Ich traue dem Frieden nicht. Dzidzia hat mir das ganze Paket gebracht. Darin das kleine Halfter der Sauer, der Dienstpistole meines Vaters. Ich öffne das Etui, ziehe sie heraus.
«Kostek, lass das jetzt, gut? Später kannst du spielen», sagt Dzidzia, unbemerkt ins Zimmer zurückgekommen.
Mein erster Reflex ist, die Pistole schamhaft zu verstecken, wegzuwerfen, ich bin knallrot wie ein Junge, der beim Onanieren erwischt worden ist.
Doch plötzlich weiß ich, dass mehr in mir ist. Irgendwo tief in mir ist etwas gewachsen, das mir erlaubt, diese Pistole in der Hand zu behalten. Dank ihr. Sie sagt mir, ich soll es lassen, aber ihretwegen kann ich tun, was ich tun will. Nicht das, was sie von mir erwartet. Oder meine Mutter. Oder mein Vater. Oder der Führer. Dank ihr. Niemals habe ich jemanden wie sie gekannt.
Niemals hast du jemanden wie sie gekannt.
Mir zittern die Hände, plötzlich wird mir heiß, und ich bemühe mich, das, was ich tun will, langsam zu tun, um mich nicht lächerlich zu machen, also ziehe ich den Hahn mit zwei Fingern zurück, prüfe, ob die Waffe geladen ist, da blitzt etwas golden, also lasse ich los, ohne den Blick von Dzidzia abzuwenden, und die Patrone rutscht an ihren Platz, die Waffe ist geladen.
Ich stehe auf. Meine Unterschenkel zittern vor Adrenalin. Ich habe nur die Unterwäsche an, Hose und Hemd, aber das ist egal. Ich traue dem Frieden
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