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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Zwoleń, aber während sie dort auf Arbeit warteten, treiben sie sich hier im Morgengrauen herum, suchen nach Essbarem, genau wie ein paar traurige Bauern. Und dazwischen drei schmutzige Kinder.
    «Halt an, bitte», bittet Dzidzia, und das sind die ersten Worte, die sie seit Zwoleń gesagt hat, obwohl wir schon eine gute halbe Stunde unterwegs sind.
    Zwei kleine Jungs, barfuß. Ein Mädchen, größer, mit Lappen an den vielleicht zehnjährigen Füßchen.
    «Was macht ihr da, Kinder?», fragt Dzidzia, nachdem sie die Scheibe heruntergekurbelt hat.
    «Wir leben, gnädige Dame», antwortet das Mädchen.
    Meine Gefährtin streckt einen silbernen Piłsudski aus dem Fenster.
    «Bitte, hier habt ihr zehn Złoty.»
    Die Jungs sehen die ältere Freundin fragend an. Die beachtet sie nicht.
    «Und was muss man für diese zehn Złoty tun, gute Dame?»
    «Nichts. Nehmt nur. Kauft Brot zum Frühstück für euch und eure Mama.»
    Das Mädchen nimmt die Münze, besieht sie genau, ich warte schon darauf, dass sie gleich hineinbeißt, aber sie steckt sie in die Manteltasche.
    «Mama ist tot», sagt sie.
    «Im Krieg?», fragt Dzidzia besorgt.
    Das Mädchen sieht durchs Fenster zu mir herein, sieht mich an, mich, ihr Blick bleibt auf meinem dunkelgrünen, deutschen Kragen hängen. Dem deutschen Kragen.
    «Nein», antwortet sie. «Das sind jetzt drei Jahre, dass Mama tot ist. Sie ging die Schwangerschaft abtreiben zu einer Jüdin, und darüber ist sie gestorben.»
    «Fahren wir», stoße ich aus beklommener Kehle hervor.
    Dzidzia ignoriert mich, obwohl ich doch am Steuer sitze, ich lenke, es in meiner Macht steht, den Gang einzulegen, die Kupplung kommen zu lassen, die Drosselklappe zu öffnen und zu fahren, zu fahren. Ich habe die Macht. Aber ich fahre nicht.
    «Wie heißt du?», fragt Dzidzia.
    «Ist das wichtig?»
    «Nein.»
    «Madzia.»
    «Und deine Geschwister hier, Madzia?»
    «Ach wo. Findelkinder, die kenn ich gar nicht», erwidert das Mädchen resolut.
    «Und teilst nicht mit ihnen …», fragt Dzidzia.
    «Kommt nicht in Frage.»
    Dzidzia nickt verständnisvoll, kurbelt die Scheibe zu.
    «Na, dann fahren wir.»
    Ich biege die erste nach links ab, die Straße ist sehr schlecht, miserabler, als ich in Erinnerung hatte, wenn ich das in Erinnerung hatte. Früher war ich einmal hier entlanggekommen. Sicher? In Zwoleń ja, in Zwoleń sicher, aber hier?
    Links ein kleiner See, eine Mühle. Armselige Hütten und ein Mann an der Straße, die kaum noch ein Pfad ist, mit Gras überwachsen.
    «Die Straße nach Lipsko?», frage ich.
    Er erschrickt vor der deutschen Uniform und den polnischen Worten, läuft aber nicht weg, vielleicht hat er Angst. Ein armer Schlucker, wuschiger Schnauzbart, hohe Bauernstiefel und eine Mütze, die er sofort vom Kopf reißt. Trotz des Regens, der jetzt gerade lustlos zu nieseln beginnt.
    «Nicht nach Lipsko, der Herr», verneint er.
    «Dann nach Ciepielów zurück?», frage ich.
    Er denkt eine Weile nach.
    «Nicht zurück, der Herr, nicht zurück, wär ein Umweg. Da hinten gleich rechts nach Kałkowy abbiegen, da führt so ein Weg wie dieser durch den Wald, in Struga kommen der gnädige Herr dann auf die Straße nach Lipsko.»
    Ich sehe ihn mir genauer an. Alter Schnauzbart, die Mütze in den Händen. In so einer Welt leben wir: Ich sitze in einem amerikanischen Auto in deutscher Uniform, habe eine Waffe und eine schöne Frau neben mir, und er knetet die Mütze in den Händen und hat kein Auto, keine Waffe, keine Uniform, nichts, nur diese Mütze. Warum haben manche schon immer alles, und die anderen haben nichts? Dümmste aller Fragen! Wenn alle das Gleiche hätten, dann müsste man erst recht fragen, warum …
    Ich fahre weiter. Biege ab, nach rechts, wie er gesagt hat. Dzidzia schweigt, guckt aus dem rechten Fenster, wie beleidigt – warum, etwa meinetwegen, was könnte zwischen uns sein, dass Dzidzia beleidigt ist? Blödsinn. Draußen armselige Höfe, Kałkowy.
    Und dann Wald. Kiefern. Wir fahren.
    Dzidzias Gesicht von mir abgewandt. Dzidzia ganz weit weg. Mein Knie, der Hebel der Gangschaltung, das perforierte Blech der Maschinenpistole, und dann Dzidzias Knie, in fleischfarbener Strumpfhose ihr Knie.
    «Pass auf!» Ein Schrei.
    Die Welt schrumpft, sie verdichtet sich.
    Bremse, Knirschen, furchtbares Schaben, das Auto schrammt am Straßenrand, der Körper bäumt sich auf in steifer Verhärtung, ich kenne das, ich hatte zwei Unfälle vor dem Krieg, ich kenne das. Die Innereien verschnüren sich. Aber

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