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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Helden stehe ich weit unter dem Oberst Marian Steifer.
    Desto süßer ist mein kleiner Triumph über ihn, hier und jetzt an diesem Tisch, wo er und Dzidzia und ich sitzen und er von diesem Triumph gar nichts weiß, wir aber schon, mein kleiner, heimlicher Sieg.
    Dabei sehe, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Etwas läuft nicht so, wie es nach dem unausgesprochenen, unsichtbaren Gefüge der zwischenmenschlichen Mechanik sein sollte.
    «Ich werde mich dann verabschieden», Steifer hisst die weiße Flagge.
    Wir stehen auf, Handschlag. Dzidzia küsst Steifer natürlich die Hand. Auf Wiedersehen, ganz sicher, auf Wiedersehen, wir werden uns ja wohl noch häufiger sehen, nicht wahr?
    «Ach, und natürlich: Sie sind meine Gäste», verabschiedet er sich geistesgegenwärtig, wirft den Trench über die Schulter, zahlt an der Bar und geht, mit einer letzten Verbeugung.
    Dzidzia und ich lächeln uns an, Worte sind überflüssig, keine Erklärungen, alles ist klar.
    «Hier bin ich nie mit ihm gewesen», sagt Dzidzia. «Hier kam ich allein her, nur um ihn zu sehen. Manchmal hat er mich nicht einmal bemerkt. Er saß hier mit seinen Freunden, einige erkenne ich sogar wieder, dort, hinter deinem Rücken, aber dreh dich jetzt nicht um, sonst merkt einer was und kann sich denken, wovon wir reden, guck später. Also er saß hier, saß mit seinen Freunden, trank, diskutierte, stritt; er verbat mir nicht, herzukommen und ihn anzusehen. Wenn er mich bemerkt hatte, hob er nur kurz das Glas auf mich, mehr nicht, nie kam er zu mir oder fing ein Gespräch an, meistens ging ich als Erste, aber wenn seine Freunde mal früher wegwollten, blieb er nicht, sondern ging mit ihnen, schickte mir nur eine banale Verbeugung von der Tür. Ich dachte, er wäre heute vielleicht hier. Er kam immer um diese Zeit. Aber er ist nicht da.»
    Ich bestelle noch Wein, reiche Dzidzia eine Zigarette, wir rauchen.
    Ich weiß, jetzt weiß ich, weiß sehr gut, dass sie das nicht erzählte, um mich eifersüchtig zu machen, und ich war auch nicht eifersüchtig, nicht im mindesten, ihr Ungar gehörte zu einer anderen Welt, einer Welt ohne mich; ich war eine eigene Welt.
    «Gehen wir spazieren», schlage ich vor.
    Was konnten wir sonst tun? Unsere aufklärerischen Pflichten hier sind mit Steifers Übergabe der in Rasierseife eingeschmolzenen Instruktionen erfüllt. Der Zug geht erst abends. Ich schaue auf die Uhr: sechzehn. Gerade genug Zeit für einen Bummel, ein Abendessen, dann ins Hotel und zum Bahnhof.
    Dzidzia führt mich, ich lasse mich führen, also zur St.-Stefans-Basilika in Pest, dann mit der Metro zur Andrassy-Straße bis zum Adolf-Hitler-tér, dem nach ihm benannten Platz, übrigens sehr schön. Wir sehen vier polnische Offiziere, drei davon sturzbesoffen und sehr fröhlich, einer ernst und traurig, deshalb sprechen wir nicht Polnisch. Unser Spaziergang gehört zu einer anderen Welt, es ist ein normaler Spaziergang in einer normalen Stadt, keine Flucht nach der Niederlage. Hier sind wir so, wie jeder Europäer aus einer beliebigen europäischen Stadt von Riga bis Palermo gewesen wäre, wir haben sogar vereinbart, dass wir uns gegebenenfalls als Österreicher vorstellen, damit das schreckliche, schwarze Odium der Niederlage uns nicht belastete.
    Vom Hitler-tér gehen wir zum Heldenplatz, dessen riesige, von edler Patina begrünte Reiterfiguren in engem Kreis den auf einer Säule stehenden Erzengel Gabriel umringen. Es sind, wie Dzidzia erläuterte, Árpád und seine Führer, und im weiten Ring um den Platz die Unberittenen, die Helden der magyarischen Geschichte vom heiligen Stefan bis zu Franz Josef.
    Und ich weiß, dass ich zu dieser Welt der Helden zu Fuß und zu Pferde nicht gehörte, obwohl ich beritten kämpfte: Sie haben gedient, so war es wenigstens im kollektiven Gedächtnis der Ungarn geblieben, hatten dem Stamm, dem Volk, dem König gedient, dann auch dem Vaterland, als sie sich dieses Vaterland einmal ausgedacht hatten. Ich diene nicht. Ich bin Konstanty Willemann, und das heißt nicht mehr, als dass ich Konstanty Willemann bin. Ich bin wie eine Rose: Die Rose blüht, weil sie blüht, sie kennt kein Warum. Ich bin Konstanty Willemann, denn ich bin Konstanty Willemann, das definiert mich vollständig und beschreibt mich zur Gänze. Ich bin auf dieser Welt nur da, um zu sein. Wenn ich die Befehle des Ingenieurs ausführe, diene ich niemandem, weder ihm noch Polen noch einer Organisation; mein Sein dient meinem Sein.
    Wir fahren mit der Metro zum

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